Ingolstadt
Die Bahn kommt – bloß wann?

05.12.2010 | Stand 03.12.2020, 3:23 Uhr

Ingolstadt (DK) Endlich Wochenende. Endlich Ingolstadt – bequem mit dem ICE ab Berlin. Der Winter ist zwar schon ein paar Tage da, die Straßen sind geräumt. Aber ein Blick ins Netz kann nicht schaden. Und siehe da: "Aufgrund der Witterungsverhältnisse sollten Sie mit 15 Minuten Verspätung rechnen."

¦ Berlin, 14.58 Uhr

Heute starten die Fernzüge nach Süden tief unter der Erde. Gleis 2. Aber auf der Anzeigetafel steht nichts vom ICE Richtung Innsbruck, der auch in Ingolstadt hält. Stattdessen ist hier von dem in Richtung München die Rede. Der sollte aber schon seit einer Stunde weg sein. Eine Gruppe von 15 Senioren schaut ratlos umher. "Das versteht doch kein Mensch", sagt einer von ihnen mit Blick auf den Lautsprecher. Eine Bahn-Uniform ist weit und breit nicht zu sehen. Aber soviel krächzt durch: Unser ICE fährt 40 Minuten später.

¦ ca. 15.15 Uhr

Am Bahnsteig passiert nichts. Hoch zum Reisezentrum. Himmel und Menschen. Der Freund ruft an und sagt: "Komm lieber nächstes Wochenende. Wer weiß, ob das gut geht". Am Schalter rät man, ein, zwei Stunden mehr einzurechnen. Na gut. Das geht gerade noch so. Riskieren wir’s.

¦ ca. 15.40 Uhr

Das ist die neue planmäßige Abfahrt. Hier steht ein ICE. Aber ob das der unsere ist? Keine Anzeige. Keine Ansage. Keine Ahnung. Aber da die Seniorengruppe einsteigt, muss es wohl der richtige sein. Immerhin, der Zug ist nicht überfüllt. Sitz 106, Wagen 37. Auf meinem Platz sitzt eine ältere Dame. "Ich hatte gestern eine Augen-OP in der Charité", sagt sie, "und jetzt fahr’ ich heim nach Tirol". Kein Problem, die Reihe dahinter ist ja frei. Hauptsache, jetzt kommt nichts mehr dazwischen.

¦ ca. 16.50 Uhr

Jopie Heesters? Die Geschichte im Spiegel liest sich lustig. Aber warum stehen wir plötzlich? Sind wir schon in Leipzig? Nein, in der Spätdämmerung sind nur Bäume und Schnee zu erkennen. Halt auf freier Strecke. Die Erklärung kommt über Funk. "Der Zug vor uns hat einen Oberleitungsschaden." Der ist zum Glück schnell behoben. Nach 15 Minuten ruckelt es weiter.

¦ ca. 17.15 Uhr

Zeit für die Fahrkartenkontrolle. Die Schaffnerin knipst ab, will uns aber kein Erstattungsformular wegen der Verspätung aushändigen. Nicht die Bahn sei Schuld. Sondern das Wetter. Die (jetzt 90-minütige) Verspätung bestätigt sie aber handschriftlich auf den Reiseunterlagen. Eigentlich würden wir jetzt in den Leipziger Sackbahnhof einfahren. Geht aber nicht. Ein anderer Zug blockiert unser Gleis.

¦ ca. 19 Uhr

Die Dame vor mir kann nach ihrer Augen-OP das Display im Waggon nicht lesen. Auf das wird in den ICE der nächste Halt projiziert. "Jena Paradies, 17.16 Uhr" liest ihr ein netter Mann vor. Witzig – vom Zugbegleiter haben wir doch eben gehört, dass unsere Bahn längst auf einem anderen Trip ist. Weit an Jena vorbei: "Schneeverwehungen". Von dem, was eine Mitreisende über die vielen Pannen bei der Bahn gelesen hat, bekommt man offiziell nichts zu hören: Die Bahn habe bei Jena aus Kostengründen die Heiztechnik außer Betrieb genommen, die das Vereisen der Gleise verhindert.

¦ ca. 19.58 Uhr

Die Reisenden kennen sich nicht. Aber die Gespräche untereinander nehmen Fahrt auf. Fragen sich ja auch alle, wo wir jetzt sind und wie viel wir inzwischen über die Zeit sind. "120 Minuten" ruft ein junger Mann in die Reihen. Er hat mit seiner Freundin telefoniert. Und die hat in Ingolstadt auf dem Sofa unsere Verspätung gegoogelt. Ein Pärchen mit Säugling flüchtet in den Speisewagen, um der zugigen Zugluft zu entgehen. Das Handy klingelt. Der Freund sagt, "jetzt wären wir eigentlich schon im Daniel". Eigentlich. Jetzt sind wir irgendwo zwischen Weimar und Fulda.

¦ ca. 21.30 Uhr

Mal schneller, mal langsamer. Oder gar nicht. Als der Zug erneut auf freiem Feld anhält, überrascht die erste Ansage seit Stunden. "Eine Baustelle." Wer zum Himmel hat hier mitten in der Nacht was zu bauen?

¦ ca. 22.30 Uhr

Die belegten Sandwiches sind aus. Aber im Bistro gibt’s noch Rotwein. Die Kräfte am Tresen versuchen, Haltung zu bewahren. "Um sieben heute früh hab’ ich angefangen", sagt eine Kellnerin – und in diesem Moment sind wir froh, nicht auch noch bei der Bahn arbeiten zu müssen, wenn man schon mit ihr fahren muss. Die Verspätung liegt jetzt bei 170 Minuten, lässt die Freundin des jungen Ingolstädters ausrichten. Inzwischen liegt sie im Bett.

¦ ca. 23.00 Uhr

Die operierte Dame macht sich Sorgen. Wie soll sie von Innsbruck mitten in der Nacht nach Hause kommen? Sie hat niemanden, der sie abholen kann. Eine Hebamme redet ihr gut zu, bietet ihr die Handynummer für den Notfall an. Und die Bahn zahlt das Taxi, sagt die Schaffnerin. Andere haben es besser, weil jemand auf sie wartet: In Ingolstadt schlagen jetzt mindestens ein Dutzend Freunde oder Angehörige die Zeit tot, bis die Liebsten im Hauptbahnhof eintrudeln werden. Bloß wann?

¦ ca. 23.32 Uhr

Angekommen. Aber nicht in Ingolstadt. In Nürnberg müssen wir unverhofft raus aus ICE Nr. 1213. "Schaden am Zug".

¦ ca. 23.40 Uhr

Ein Glück. Nur acht Minuten bei minus acht Grad auf dem Bahnsteig. Nach knapp neun Stunden mit Hü und mit Hott sitzen wir die letzte halbe Stunde doch auf einer Pobacke ab. Beim letzten Pfefferminztee verrät die Kellnerin, was sich hinter dem "Schaden am Zug" in Nürnberg tatsächlich verbirgt: Der Zugführer hatte sein Stundenlimit erreicht. Er durfte nicht mehr weiter fahren.

¦ Ingolstadt, 00.10Uhr

Geplante Fahrzeit: 5 Stunden. Tatsächliche Fahrzeit: 9 Stunden und 12 Minuten. Das Küche im Daniel hat längst zu. Aber in diesem Moment spielt das keine Rolle mehr. Schmatz.