Der Zankapfel ist international

Gastbeitrag von Rolf-Bernhard Essig: Das Europa der sprichwörtlichen Redensarten

22.05.2019 | Stand 02.12.2020, 13:54 Uhr
Autor und Sprichwort-Experte: Rolf-Bernhard Essig. −Foto: Schury

Ein Hörer rief einmal in meiner Radiosendung "Essigs Essenzen" an und bat überraschend um die Schlichtung eines Ehestreits.

Seine spanische Frau behaupte steif und fest, ein Sprichwort sei spanisch, das er doch seit Kindertagen als deutsches kenne. "Wie heißt es denn? ", fragte ich. "Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. " Ich schmunzelte innerlich und sagte tröstend über den Äther: "Ich bin zwar kein Ehetherapeut, aber hier kann ich ein salomonisches Urteil fällen. Es ist weder spanisch noch deutsch. Das Sprichwort stammt aus der Bibel und findet sich deshalb in vielen Ländern, die christlich geprägt sind. "

Die Sache ist kein Einzelfall. Obwohl wir im Fremdsprachenunterricht lernen, sprichwörtliche Redensarten niemals wörtlich zu übertragen, trifft es für Europa oft nicht zu. Die gemeinsame Prägung der abendländischen Kultur lässt sich hier auf wunderbar anschauliche und überzeugende Art nachweisen.

Allein aus der Bibel stammen nämlich viele Dutzend stehende Wendungen, die ähnlich in ganz Europa vorkommen. Nehmen wir "zur Salzsäule erstarren". Genau das passiert im Alten Testament der armen Frau Lot, als sie sich wider göttliches Gebot umdreht und die Zerstörung der ebenfalls sprichwörtlich gewordenen Städte - für Unordnung nämlich - "Sodom und Gomorrah" sieht.

Die beiden Redewendungen gibt es identisch oder mit minimalen Änderungen im Norwegischen, Dänischen, Französischen, Italienischen, Russischen, Sorbischen, Tschechischen, Ungarischen, Finnischen; von einem Dutzend weiterer Sprachen zu schweigen. Das gilt ähnlich für "das gelobte Land" beziehungsweise "das Land, in dem Milch und Honig fließt", womit die Bibel Kanaan beziehungsweise Israel umschreibt, in das Moses die Juden aus Ägypten führt.

Aus den wohl an die hundert weiteren Beispielen will ich nur noch zwei nennen, damit man nicht denkt der Artikel wäre "auf Sand gebaut", was selbst dazugehört. Europaweit bekannt ist auch "Perlen vor die Säue werfen" aus dem Neuen Testament. Bei der Übersetzung aus dem Bibel-Griechisch blieb man allerdings nicht überall bei den Perlen. Im Walisischen wirft man Edelsteine vor die Säue, und in Russland, Weißrussland, der Ukraine sind es Glasperlen, in Holland überraschenderweise Blumen oder Margariten. Das lässt sich aber aus der Herkunft des Blumennamens aus dem griechischen Wort für Perle "margarites" erklären.

Die Übereinstimmungen im europäischen Redewendungen- und Sprichwörter-Schatz gehen freilich noch deutlich weiter. Schließlich ist die ganze abendländische Welt und viele ihrer Ex-Kolonien Erbe einer gemeinsamen Kultur, die sich auch aus den griechischen und römischen Sagen speist. Denen verdanken wir international bekannte Ausdrücke wie den "Trojaner" - eigentlich "trojanisches Pferd" - auf dem Computer und den Zankapfel, die Achillesferse, die Herkulesarbeit, den Kaiserschnitt, dazu längere Ausdrücke wie aus der Prometheus-Sage "die Büchse der Pandora öffnen", also "dem Unglück Tür und Tor öffnen".

Zum Bereich der gesamteuropäischen Wendungen antiken Ursprungs gehört ebenfalls "ein wandelndes Lexikon sein", "Auch du, Brutus! " und "die Gelegenheit beim Schopf packen".

Die Gelegenheit war übrigens vor über zweitausend Jahren eine Gottheit, die bei den Griechen Kairós hieß, bei den Römern Occasio. Sie hatte einen fast kahlen Schädel, nur an der Stirn eine Locke, eine Strähne oder einen Schopf Haare. Wenn die Gelegenheit an einem vorbeieilte, konnte man sie an ihrem Schopf packen. Daraus entstand dann auch der stark verbreitete Ausdruck von der "Glückssträhne".

Auf antike Wurzeln geht auch der Gewinner-Titel Conchita Wursts im "European Song Contest" 2014 zurück. "Rise like a Phönix" bezieht sich auf die Sage des Feuervogels Phönix, der verbrennt und aus seiner eigenen Asche wiedergeboren und verjüngt emporsteigt. Dutzende Sprachen Europas kennen Redensarten mit ihm. Ähnlich berühmte, immer wieder erzählte, aber historisch verbürgte Ereignisse stecken ebenfalls hinter gesamteuropäischen Redensarten, wobei man das abendländisch beeinflusste Latein- und Nordamerika sowie viele weitere Regionen mit einbeziehen müsste. Schließlich kennt man auch in Peru "sein Waterloo erleben", was sich auf Napoleons entscheidende Niederlage 1815 bezieht, oder in den USA "den Rubikon überschreiten", Caesars entscheidenden Schritt im Bürgerkrieg.

Ähnlich wichtig ist das römische Recht mit seinen teils in Originalsprache sprichwörtlich gewordenen Regeln wie vor allem "in dubio pro reo", also "im Zweifel für den Angeklagten". Dazu: "Man muss auch die andere Seite hören. "

Ganz im Gegensatz zu diesen eher dürren juristischen Einflüssen poetisieren Fabeln, Märchen und Geschichten unsere Sprichwörter. In ganz Europa fasste man sie aus Faulheit in wenigen Wörtern zusammen, die sprichwörtlich wurden. Viele Leser kennen wohl die Geschichte vom Fuchs, der behauptet, die Trauben seien sauer, bloß weil er sie nicht erreichen kann. In England wurde daraus die Wendung "sour grapes" und drückt Enttäuschung aus. "Die Höhle des Löwen", der "Löwenanteil", den jemand bekommt und das Sprichwort "Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer" verdanken sich wie viele weitere den Fabeln des Äsop und seiner Nachfolger.

Was wäre unser gemeinsames Sprichwort-Haus Europa schließlich ohne die Meister des Wortes? Shakespeare prägte geflügelte Worte in Dutzenden Sprachen - weit über "sein oder nicht sein" hinaus. Aber auch Cervantes mit seinem "Kampf gegen Windmühlenflügel" gehört dazu, Goethe mit "Grau ist alle Theorie", Tolstoi mit "Wieviel Erde braucht der Mensch? " oder Jules Verne mit "In 80 Tagen um die Welt". Verlassen Sie sich aber nicht zu sehr auf die zahlreichen Übereinstimmungen, denn die allermeisten stehenden Wendungen unterscheiden sich von Land zu Land. Hindert Sprecher des Deutschen beispielsweise "ein Frosch im Hals" beim Reden, so sagen die Franzosen dazu schön bildhaft: "Ich hab eine Katze in der Kehle. "

ZUR PERSON
Rolf-Bernhard Essig ist Autor, Sprichwort-Experte und Kurator. Er wurde 1963 in Hamburg geboren, wuchs in Kulmbach auf und lebt seit 1983 in Bamberg. Essig ist regelmäßig zu Gast im Rundfunk und Fernsehen. Seine aktuellen Titel sind "Da haben wir den Salat. In 80 Sprichwörtern um die Welt" und "Ich kenn doch meine Pappenheimer. Wunderbare Geschichten hinter sprichwörtlichen Orten".