Der Weg ist das Ziel

Uraufführung: Das berührende Partizipations-Projekt "Ach! Fast eine Funkoper!" bei der Münchener Biennale für neues Musiktheater

26.07.2020 | Stand 23.09.2023, 13:09 Uhr
Marco Frei
Sopranistin Jessica Aszodi in dem Musiktheaterprojekt "Ach! Fast eine Funkoper". −Foto: Smailovic

München - Ein Partizipationsprojekt wäre in normalen Zeiten mehr ein Teil des Rahmen-Programms.

In der gegenwärtigen Corona-Pandemie ist jedoch gar nichts mehr normal. Da kann selbst der Rahmen zum Zentrum werden. Für die diesjährige Münchener Biennale für neues Musiktheater gilt das ganz besonders, denn: Von den wenigen Projekten, die bis jetzt überhaupt realisiert werden konnten, ist "Ach! Fast eine Funkoper" fraglos ein Höhepunkt. Dahinter verbirgt sich ein Projekt, das von und mit Kursteilnehmern der Münchner Volkshochschule gestemmt wurde. Zugegeben, große Erwartungen hatte man nicht, denn: Schon seit Gründung der Münchener Biennale 1988 durch Hans Werner Henze gehören Aufführungen mit Laien zum Programm des verdienstvollen Festivals. Die Ergebnisse waren allerdings oft ziemlich bemüht.

Auf der anderen Seite erscheint die Biennale unter der Leitung von Manos Tsangaris und Daniel Ott wie ein einziges Rahmen-Programm. Umso erstaunlicher war jetzt das Ergebnis: Die Aufführung berührte über weite Strecken, weil sie mitten im Leben stand. Die Corona-Pandemie hat nicht nur den Proben- und Aufführungsprozess beeinflusst, sondern auch dem Thema einen völlig neuen, aktuellen Aspekt abgerungen. Immerhin geht es um Räume, die einstmals im Gestern bewohnt wurden und im Heute nur noch Teil der Erinnerung sind. Das Libretto von Kathrin Röggla verarbeitet auch Texte, die von den Kursteilnehmern stammen. Es geht um Menschen, die sich an ihre Orte von einst erinnern. Mit Kreide werden auf den Boden die Grundrisse der Wohnungen und Häuser aufgezeichnet. Es sind Schattenbilder von einstigen Lebensentwürfen: zu Strichzeichnungen reduziert.

Die Erinnerung verwebt Sein und Schein. Manche Träume sind ungelebt geblieben, anderes hat sich anders entwickelt. In Zeiten von Corona, wo Isolation und Distanz gefordert werden und der öffentliche Raum bisweilen ganz geschlossen ist, sind die eigenen vier Wände ein Refugium - oder ein Käfig. Gleichzeitig ist der Verlust von bezahlbaren Wohnraum ein massiver Eingriff in die Freiheit des Menschen. Denn der Lebensmittelpunkt als Ort kann nicht mehr selbstbestimmt gewählt werden, zumal in einer überteuerten Stadt wie München. Seit November 2019 wurde an dem "Ach! "-Projekt gefeilt. Als treibenden Profi-Kräfte dahinter agierten: die Performerin und Musikerin Cathy Milliken, der Ensemble-Modern-Mitbegründer Dietmar Wiesner sowie die bedeutende Perkussionistin Robyn Schulkowsky.

Als der Corona-Lockdown folgte, stand zunächst alles still. Schließlich musste vieles neu gedacht werden. Nicht zuletzt änderte sich der Aufführungsraum. Statt in den Schwere Reiter wurde jetzt in die Reithalle geladen. Sie heißt inzwischen offiziell "Utopia", und das passt vortrefflich zu diesem Projekt. In den verstaubten Radio-Klängen und der Collage aus Geräuschen, Klangaktionen, Lauten und Worten wurde die Kunst selber zum Ort. In diesem Raumklang erwuchs die Utopie einer "Schönen neuen Welt".

Eindringlich und intensiv agierten Sprecher Simon Brusis, Sopranistin Jessica Aszodi und das Quartett aus Akkordeon (Nikola Kerkez), E-Gitarre (Steffen Ahrens), Trompete (Rike Huy) und Schlagzeug (Mathias Lachenmayr). Vor allem aber waren es die Laien, die wahrlich Großes vollbrachten. "Wir werden ankommen, den richtigen Weg finden, wissen, wo unser Ort ist", singen sie als Chor vereint: im Saal und draußen vor der Tür, wie in einer Prozession. Sie sind eben auf der Suche. In Zeiten der totalen Ungewissheit ist womöglich das Gehen selber das Ziel.

DK

Marco Frei