Neuburg
Der Urmensch ist so nah

Landestheater Dinkelsbühl gelingt mit "Der Gott des Gemetzels" ein Erfolg

12.02.2016 | Stand 02.12.2020, 20:12 Uhr

Jeder gegen jeden und wechselnde Allianzen prägen das gegenseitige Zerfleischen in "Der Gott des Gemetzels": (von links) Alain Reille (Andreas Peteratzinger) diskutiert mit Veronique Houillé (Monika Reithofer), während seine Frau Annette (Patricia Foik) sich übergibt und sich Michel Houillé (Julian Niedermeier) genötigt sieht, ihr beizustehen. - Foto: Hammerl

Neuburg (DK) Hauchdünn ist der Schutzmantel der Zivilisation. Um es biologisch auszudrücken - nur wenige Millimeter Großhirnrinde trennen den modernen Menschen von seinen Urinstinkten. Und wehe wenn sie losgelassen! Dann tritt "Der Gott des Gemetzels" zutage - zum Glück nur im Theater.

Doch das ist natürlich Spiegelbild der Gesellschaft. Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit sind kaum zu leugnen, auch wenn Autorin Yasmina Reza stark überspitzt. Doch welches Elternpaar hat es nicht schon erlebt, dass ein (handfester) Streit der Sprösslinge sich negativ auf das Verhältnis der Eltern zueinander auswirkt? Ferdinand Reille hat mit einem Stock Bruno Houillé ins Gesicht und damit zwei Zähne ausgeschlagen. Ob mit Absicht, ob er mit dem Stock "bewaffnet" oder nur "ausgestattet" war, ob es ihm leid tut, wie und ob er bestraft wird, darüber lässt sich trefflich streiten. Ein wenig langsam kommt der erste Akt in die Gänge, nur hie und da flackert Wortwitz auf. Aber vielleicht braucht es das einfach, um die vielschichtigen Charaktere zu entwickeln.

Da ist Veronique Houillé (Monika Reithofer), die Mutter des Opfers, auf den ersten Blick viel biederer wirkend als Annette Reille (Patricia Foik). Als Schriftstellerin in fernen afrikanischen Welten schwebend fordert sie den Kodex der westlichen Welt ein und wirft ihn als schlagende Ehefrau als erste über Bord. "Ist es normal, jemandem vorzuwerfen, kein Choleriker zu sein", fragt sie empört. In ihrer Scheinheiligkeit, ihrem übereifrigen Hang zum Gutsein, der sich zum Pharisäertum steigert, entwickelt sie sich im Laufe des kurzen Stücks - gut 90 Minuten inklusive Pause - zur unangenehmsten Person. Gegenspielerin Annette bewahrt lange die Fassade und versucht, auch ohne Unterstützung ihres Mannes, eine Lösung für die Buben herbeizuführen, indem sie vorschlägt, am Abend mit Ferdinand vorbeizukommen, damit er sich mit Bruno aussprechen kann. Doch auch ihre Fassade bekommt Risse, spätestens als der reichlich genossene Kognak seine Wirkung entfaltet und sie über den geliebten Kunstband Veroniques speien lässt. Michel Houillé (Julian Niedermeier), Großhändler für Kochtöpfe und Sanitärzubehör, steht für das Mittelmaß, das seine Frau an ihm verzweifeln lässt. "Die Ehe ist die schlimmste Prüfung, die Gott dem Mann auferlegt hat", kontert er lakonisch. Was ihm wiederum Pluspunkte bei Alain Reille (Andreas Peteratzinger) einbringt. Der ständig wegen eines Medikamentenskandals mit dem von ihm vertretenen Pharmakonzernmitarbeiter telefonierende Rechtsanwalt scheint von Beginn an der Böse im Spiel zu sein. Er zeigt deutlich, was er von Veroniques Tatinterpretationen, Versöhnungs- und Entschuldigungsvorstellungen hält - nämlich nichts. Für ihn gilt, "Buben haben sich schon immer im Pausenhof vertrimmt", und das Recht des Stärkeren vertritt er auch im Beruf. Ein richtiger Widerling also? Mag sein, ja, auf den ersten Blick. Unangenehm, unsympathisch, ständig am Handy hängend gibt er sich nicht die geringste Mühe, eine Konfliktlösung zu finden oder gar dazu beizutragen. Dennoch wachsen seine Sympathiepunkte. Schließlich ist er der einzige im satirischen Spiel, der sich hinter keiner Fassade versteckt, der sich einfach so gibt, wie er ist.

Regisseur Johannes Lang gelingt mit dem Landestheater Dinkelsbühl ein faszinierendes Stück, das im zweiten Akt gewaltig an Fahrt aufnimmt und trotz des fatalistischen Fazits, dass der Mensch letztlich nicht zur Entwicklung tauge, immer wieder zum Lachen reizt. Ursula Blüml hat die Protagonisten mit Kostümen ausgestattet, die ihre Lebenseinstellung auf den ersten Blick erkennen lassen. Großartig die Schauspieler, die auch im passiven Spiel ihre Rollen bis ins kleinste Detail der Körpersprache leben.