Der unberechenbare Brecht

Live-Stream, Hörspiel, Musik, Poetry, Film und "airmeet": Jürgen Kuttner über die Konzeption eines digitalen Festivals

29.01.2021 | Stand 08.02.2021, 3:33 Uhr
  −Foto: Fabian Schreyer Tetiana Vasylenko, Ulrike Gutbrod

Berlin/Augsburg - "Einen kleinen Moment", sagt Jürgen Kuttner und verabschiedet sich aus der Videokonferenz.

Er probt "Medeamaterial". So, wie man derzeit Corona-bedingt eben probt: Schauspieler, Regisseure, Bühnen- und Kostümbildner im Homeoffice in Augsburg, Berlin und München. Eigentlich hätten Anfang Januar normale Proben in Augsburg beginnen sollen. Aber weil die Theater zu sind, hat man sich dazu entschlossen, Müllers Kondensat des antiken Medea-Mythos als Videoprojekt zu realisieren. Zum zweiten Mal findet das Brechtfestival 2021 unter der künstlerischen Leitung von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner statt. Den thematischen Schwerpunkt wird in diesem Jahr der Komplex "Brechts Frauen" bilden. Wegen des Lockdowns wird das Festival vom 26. Februar bis zum 7. März digital steigen. Geplant sind Live-Streams, Kurzfilme, Musikvideos, Konzerte und Lesungen.

Herr Kuttner, das Brechtfestival findet dieses Jahr digital statt. Macht das die Konzeption schwieriger?
Jürgen Kuttner: Unendlich schwieriger. Denn eigentlich wollten wir unsere Erfahrungen aus dem vergangenen Festival, das ja ein wildes, jahrmarkthaftes Spektakel war, vertiefen, professionalisieren und präzisieren. Doch dann war das Brechtfestival 2020 vorbei - und kurz darauf ging Corona los. Viele hatten zwar die Hoffnung, das werde sich über den Sommer schon beruhigen. Aber ich war misstrauisch und dachte mir schon, das könnte in Richtung digital gehen. Also habe ich mit dem Arbeitsjournal im Netz begonnen.

Seit 1. September kann man dort Tag für Tag etwas zu Brecht lesen, sehen oder hören. Was für eine Idee steckt hinter dem Arbeitsjournal?
Kuttner: Es ist ein Angebot, Brecht im Gespräch zu halten und die potenziellen Zuschauer schon auf ein mögliches digitales Festival vorzubereiten - durch kleine Videos, wissenschaftliche Texte, ein bisschen Quatsch. Genauso wie Brecht sein kreatives Schaffen dokumentierte, wollen auch wir unseren Prozess offenlegen. Aber eben nicht nur akademisch, sondern auch durch Entertainment. Der Nutzer sollte immer ein bisschen überrascht sein, wie wir Brecht, sein Werk und das Kollektiv, das ihn umgab, umkreisen. Heuer liegt der Fokus ja auf Brechts Frauen, also Helene Weigel, Elisabeth Hauptmann, Margarethe Steffin, Ruth Berlau und andere wichtige Mitarbeiterinnen.

Wann fiel denn die Entscheidung für ein digitales Festival?
Kuttner: Wir hatten uns zunächst eine Hybrid-Variante überlegt - ein Live-Präsenz-Festival im Freien. Aber bald wurde es immer klarer, dass das Festival auch eingeschränkt nicht als Präsenzfestival stattfinden könnte. Ende Oktober haben wir dann auf eine Entscheidung gedrängt. Es gibt ein Sprichwort: "Wer immer hofft, stirbt singend. " Wir wollten nicht singend untergehen und vor allem auch nicht unnötig Geld in den Sand setzen. Also haben wir uns für ein digitales Festival entschieden. Aber eins mit Qualität. Dieses schnell abgefilmte Live-Theater, das man als Stream serviert, ist ja häufig eine ästhetische Beleidigung. Wir haben die Künstler gefragt, ob sie sich ihre Performance als Videoprojekt mit einer eigenen Ästhetik vorstellen können. Obwohl sich alle auf dieses Wilde, Chaotische, Spektakelhafte des vergangenen Festivals gefreut hatten, waren erstaunlicherweise alle einverstanden. Und jetzt drehen alle.

Wie haben Sie die Künstler ausgesucht?
Kuttner: Wir haben als Thema "Brechts Frauen" gewählt, deshalb nach Projekten über Margarethe Steffin, Ruth Berlau oder Elisabeth Hauptmann gesucht und versucht, möglichst viele Künstlerinnen zu gewinnen. Wir haben einfach Leute angesprochen, die wir interessant finden. Wir erzählen von unseren Ideen. Aber letztlich arbeiten alle eigenverantwortlich. Erneut dabei ist Charly Hübner, der mit seiner Frau Lina Beckmann aus dem Briefwechsel von Bertolt Brecht und Helene Weigel liest: "ich lerne: gläser + tassen spülen". Auch Corinna Harfouch ist wieder zu erleben. Diesmal befasst sie sich mit Simone Weil und Bert Brecht in ihrem Projekt "Tagebuch einer Fabrikarbeiterin / Die Mutter". Stefanie Reinsperger, der Star vom BE, arbeitet gerade an einem Film "Ich bin ein Dreck" - über Brecht oder das Leben oder die Liebe. Auch Paula Beer hatte schon zugesagt, musste dann aber für eine Kollegin einen Dreh übernehmen.

Suse Wächter lässt "Helden des 20. Jahrhunderts Brecht singen". Wer singt da was?
Kuttner: Das sind Puppen. Wir haben vor 20 Jahren mal einen Abend mit dem Titel "Helden des 20. Jahrhunderts" gemacht. Dafür hat Suse Wächter unglaublich viele Puppen gebaut: von Queen Victoria und Kaiser Wilhelm über John F. Kennedy und Helmut Kohl bis zu Marilyn Monroe und John Lennon. Und aus diesen 50, 60 Puppen hat sie sieben oder acht ausgewählt, die nun Brecht-Songs singen. Ich weiß beispielsweise, dass die "Kinderhymne" von der Pavarotti-Puppe gesungen wird - im riesigen leeren Stadion vom 1. FC Union Berlin. Ist das nicht toll?

Die Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot ist mit einem "Streifzug durch die Nacht" dabei. Was muss man sich darunter vorstellen?
Kuttner: Der Videokünstler Bert Zander hat die Musiker der Kurkapelle, die derzeit nicht mal zusammen proben dürfen, einzeln vor schwarzem Hintergrund gefilmt, ist mit diesen Aufnahmen nachts durch Augsburg gezogen und hat sie auf Häuserwände projiziert und wiederum abgefilmt. Das Ergebnis: Plötzlich spielt so eine Geisterkapelle im menschenleeren Augsburg. Das hat eine ganz andere Kraft und Ästhetik, als wenn ein Blasorchester auf der Bühne steht.

Haben Sie diesmal vor allem Künstler angesprochen, die digital fit sind?
Kuttner: Nein. Die Entscheidung für das Digitalfestival kam ja erst später. Hier in Berlin gibt es den Spruch "aus Scheiße Trillerpfeifen machen". Das können die alle: aus einer Notsituation Kunst machen. Ich bin optimistisch, dass das funktioniert. Denen fällt was ein. Wenn die Sicherheiten weg sind, muss man was erfinden. Da wird bei den Künstlern viel Fantasie freigesetzt.

Was mögen Sie an Brecht?
Kuttner: Brecht ist ein toller Autor. Die Herausforderung ist, hinter dem kanonisierten Brecht, der längst Schullektüre geworden ist, den wilden, unberechenbaren Brecht zu entdecken. Es sind immer wieder Jahrhunderttexte, die man da finden kann. Der Brecht der 20er Jahre interessiert mich mehr als der Brecht der großen Stücke. Und die Lyrik ist einfach unglaublich. Faszinierend finde ich das dialektische Denkenkönnen. Nicht nur dieses einerseits-andererseits, schwarz-weiß-oder-grau, sondern dass der Widerspruch in einer einzigen Sache stecken kann. Für mich ist er in der Bedeutung nur vergleichbar mit Heiner Müller, den ich für den wichtigsten Theaterautor mit der dichtesten Sprache halte. Heiner Müller hat die Schuhgröße, die Fußspuren Brechts auszufüllen und trotzdem eigene Wege zu gehen.

Schon vergangenes Jahr haben Sie mit Tom Kühnel die Festivalleitung übernommen. Wie funktioniert die Zusammenarbeit? Wer macht was?
Kuttner: Da gibt es keine klare Trennung im Aufgabenbereich. Das ergibt sich so. Tom Kühnel ist zuverlässiger und präziser, ich sprudle dafür vor Ideen und kann gut Leute überzeugen. (Er lacht. ) Insgesamt funktioniert es.

Haben Sie Angst, dass der Festivalcharakter verloren geht, wenn jeder allein vor sich hinstreamt? Ein Festival lebt doch auch von Begegnungen.
Kuttner: Wir versuchen das ein bisschen aufzufangen. Zunächst mal ist das Programm tatsächlich auf die jeweiligen Festivaltage beschränkt. Wir wollen diesen exklusiven, zeitgebundenen Charakter aufrechterhalten. Bis Mitternacht kann man gucken, am nächsten Tag gibt es ein anderes Programm. Wir versuchen außerdem mit "airmeet" zu ermöglichen, dass sich das Publikum nach den Veranstaltungen im Netz treffen kann. Da gibt es verschiedene Tische, an denen vier, fünf Leute sitzen und sich unterhalten können. Man kann auch den Platz wechseln - vielleicht zur berühmten Corinna Harfouch an den Nebentisch. Mal sehen, ob diese digitale Gesellungsform auch aufgeht.

Ein digitales Festival könnte Besucher aus aller Welt anlocken.
Kuttner: Ich hoffe tatsächlich auf ein globales Publikum. Auch wenn das Brechtfestival in erster Linie ein Fest der Stadt Augsburg für den berühmten Sohn der Stadt ist. Klar wird das von Brecht-Kennern und Brecht-Aficionados überregional wahrgenommen, aber dieses Jahr bestünde wirklich die Möglichkeit, Publikum von China bis in die USA zu erreichen. Nur leider lässt sich das schwer kommunizieren in dieser kurzen Zeit. Daran müsste man länger arbeiten. Vielleicht institutionalisieren wir eine digitale Festivalsparte - auch wenn Corona vorbei ist. Dann könnte man die bisherigen Erfahrungen nutzbar machen. Aber das wird sich zeigen.

DK

Die Fragen stellte Anja Witzke.