Ingolstadt
Der unabhängige Genosse

Zum Tode des früheren Ingolstädter Landrats und Oberbürgermeisters Otto Stinglwagner

08.07.2013 | Stand 02.12.2020, 23:56 Uhr

 

Ingolstadt (DK) Otto Stinglwagner ist am Sonntag im Alter von 88 Jahren gestorben. Der SPD-Politiker war von 1958 bis 1966 Landrat des Kreises Ingolstadt und dann für eine Legislaturperiode Ingolstädter Oberbürgermeister. Zur Wahl 1972 trat er nicht mehr an. Seine Verdienste finden viel Würdigung.

Der letzte Tag im Dienst führte ihn in den Dunst von Steckerlfisch. Unspektakulär, ganz pflichtbewusst erledigte er dort seine finale Amtshandlung: Am Abend des 30. Juni 1972, einem Freitag, eröffnete Ingolstadts Oberbürgermeister Otto Stinglwagner das Fischerfest am Baggersee. Er zapfte das erste Fass Bier an, wie in den fünf Jahren zuvor, fuhr aber bald weiter ins Stadttheater, wo sich bereits der Stadtrat zu einer Festsitzung versammelt hatte, und überreichte seinem Nachfolger, dem 36-jährigen Peter Schnell, die Amtskette. Damit endete die kommunalpolitische Arbeit des Münchners in Ingolstadt.

Stinglwagners Abgang war allerdings durchaus spektakulär, denn niemand hatte damit gerechnet, dass der angesehene OB nach nur einer Amtszeit bei der Kommunalwahl 1972 nicht mehr antreten würde. Erst kurz vor dem Urnengang am 11. Juni war Stinglwagners Verzicht bekannt geworden; zweifellos einer der ungewöhnlichsten und mysteriösesten Vorgänge in der jüngeren Stadtgeschichte (auch wenn Kenner mehr wissen).

Die SPD war geschockt. Für sie ging Hermann Egermann – zweiter Bürgermeister und ganz sicher kein Freund Stinglwagners – ins Rennen. Doch er unterlag dem jungen Rechtsanwalt und CSU-Landtagsabgeordneten Peter Schnell. Die Bedeutung Stinglwagners, der am Sonntag nach langer Krankheit mit 88 Jahren gestorben ist, bemisst sich also auch daran, dass es seit ihm kein Ingolstädter Sozialdemokrat auch nur in die Nähe des OB-Sessels geschafft hat.

Die vielzitierte Ironie der Geschichte drückte Stinglwagners Abschied aus dem Ingolstädter Rathaus einen dicken Stempel auf. Am Tag nach der Amtsübergabe, dem 1. Juli 1972, trat die Gebietsreform in Kraft. Sie erhöhte die Einwohnerzahl der Stadt um 15 500 auf 87 000. Dass die umstrittene Reform in Ingolstadt ohne dramatische Verwerfungen gelang, war mithin das Verdienst OB Stinglwagners, denn er hatte wichtige Voraussetzungen geschaffen und noch mehr Überzeugungsarbeit geleistet. Doch die Früchte seiner Bemühungen betrachtete er lieber aus der Ferne. Schon zum 1. Juli 1972 übernahm er den Posten des Geschäftsführers der Wohnungsbaugesellschaft Neue Heimat in seiner Geburtsstadt München; hier lebte er nach vielen Jahren in einem Haus am Unterhaunstädter Weg fortan im schicken Grünwald. Ab und an ist Stinglwagner – so lang es die Gesundheit zuließ – zu Besuch gekommen. Seinen vermutlich letzten öffentlichen Auftritt in Ingolstadt hatte er 2005, kurz nach seinem 80. Geburtstag, anlässlich einer Ausstellung über die Geschichte der Schanzer SPD im Exerzierhaus.

Der promovierte Jurist Stinglwagner war 1955 als Verwaltungsbeamter im Ingolstädter Landratsamt gelandet. Dort erkannte man sein politisches Talent und nominierte ihn für die Landratswahl, die er 1958 und 1962 gewann. Da war er noch ein Unabhängiger. Fritz Böhm, der Audi-Betriebsratschef, mit dem er sich hervorragend verstand, rekrutierte Stinglwagner für die SPD und überzeugte ihn davon, 1966 als OB-Kandidat in Ingolstadt anzutreten. Er siegte und übernahm das Amt in harten Zeiten. Der Strukturwandel vom kleinbürgerlich (und teils landwirtschaftlich) geprägten Städtchen zum Industriestandort war noch lange nicht abgeschlossen, die Auto-Union schlingerte am Bankrott entlang, aus Wolfsburg kam null Gewerbesteuer, und dann brach 1966/67 in der Bundesrepublik auch noch die Konjunktur ein. Trotz der wirtschaftlichen Talfahrt (die bis in die Ära Schnell anhielt) initiierte Stinglwagner ehrgeizige Projekte: Er schuf etwa – nach Münchner Vorbild – die Bezirksausschüsse, die sich bis heute als bürgernahe Foren im demokratischen Prozess bewähren. Er hat den Schulbau vorangetrieben „und erstmals dem Sport in unserer Stadt materiell auf die Beine geholfen“, wie es 1972 in einer Würdigung hieß. Stinglwagner stellte die Weichen für die Sanierung der Altstadt, die damals eine wahre Bevölkerungsflucht erlebte, und brachte eine umfassende Verkehrsplanung auf den Weg. Vieles blieb aber wegen der Kürze seines Wirkens Theorie.

Peter Schnell, Stinglwagners Nachfolger, hat von den „formalen Vorarbeiten“ profitiert. Das würdigt der Alt-OB an dem Verstorbenen besonders. „Otto Stinglwagner war ein Mann, der in sechs Jahren mit viel planerischer Umsicht nach vorne geblickt hat und vor allem für die Altstadtsanierung wichtige Voraussetzungen geschaffen hat“, sagte Schnell gestern. „Denn die Gelder waren schneller da, weil er sie noch beantragt hatte.“ Zu seinen Verdiensten gehört auch die Rettung der Alten Anatomie. „Ein großes Glück für unsere Stadt!“, betont Schnell. Er kommt zu dem Resümee: „Mit Stinglwagner als Vorgänger war vieles leichter.“

Manfred Schuhmann hat den OB knapp verpasst. Er zog 1972 erstmals in den Stadtrat ein. Im Wahlkampf hat er ihn noch erlebt. „Er konnte gut auf die Leute zugehen.“ Der SPD-Stadtrat zählt eine lange Liste mit Verdiensten auf. Eine Auswahl: „Er hat es in die Wege geleitet, dass wir in die Städtebauförderung aufgenommen wurden, er hat das erste Klärwerk gebaut, er hat die Bezirksausschüsse gebildet und die IFG gegründet – das alles wirkt bis heute fort.“

Dem früheren DK-Redakteur Hans Greis ist besonders Stinglwagners Beliebtheit im Ingolstädter Umland in Erinnerung geblieben. „Er hatte eine sehr bayerische Art. Das Zurückhaltende war nicht seins“, sagt Greis. „Die Leute meinten: ,Das ist einer von uns.’“ Was Stinglwagner laut Greis aber nicht war: ein Parteisoldat. Das habe ihn zur Zielscheibe in der eigenen Partei gemacht – mit dem bekannten Ausgang. Die Frage, ob ein Peter Schnell auch gegen Stinglwagner die Wahl 1972 gewonnen hätte, stellte sich nicht mehr. Greis hat dazu eine feste Meinung: „Er hätte keine Chance gehabt.“

Auch Peter Schnell erinnert sich gut daran, „dass Anfang der 70er für die Ingolstädter CSU kein Blumentopf zu gewinnen war, die Lage war miserabel“. In diesem Lichte darf man den unerwarteten Abgang des bislang letzten SPD-Oberbürgermeisters vor 41 Jahren als das allerschönste Geschenk an seinen Nachfolger bezeichnen.