Der Traum vom Neubeginn

10.03.2020 | Stand 23.09.2023, 11:08 Uhr
Hans (Jürgen Maurer) hat sich im "Südpol" mit einer Geisel verschanzt. −Foto: Domenigg/Allegro Film

Wien - Ein Morgen im Böhmischen Prater in Wien.

Ein Arbeiter ist mit dem Laubsauger unterwegs, sieht nur noch wie ein Mann eine Frau mit einer Waffe bedroht, in ein Lokal drängt und die Tür verriegelt. Kurz darauf ist die Polizei mit einem Großaufgebot vor Ort, umstellt das Lokal mit dem schönen Namen "Südpol". Der Geiselnehmer hat keine Forderungen, reagiert nicht auf Anrufe. Da taucht der junge Mario auf, er wollte seine Freundin, Kellnerin Ella, abholen. Bald wird klar, sie ist die Geisel.

Wie ein Thriller beginnt das TV-Drama "Südpol" im Ersten. Nach 20 Minuten erfolgt ein Zeitsprung. Es geht drei Wochen zurück. Mittvierziger Hans Wallentin arbeitet im mittleren Management, hat ein schmuckes Haus, eine attraktive Frau und ein funktionierende Familie. Doch von heute auf morgen verliert er seinen Job und damit den Halt und den Sinn in seinem Leben. Er packt seinen Koffer und zieht ins Hotel, tags darauf reicht er die Scheidung ein, will auf alles verzichten. Dann zieht er durch die Stadt und strandet im "Südpol", einem kleinen Lokal im Böhmischen Prater, einem Vergnügungspark am Rande Wiens. Dort lernt er Kellnerin Ella kennen - und fühlt sich endlich mal wieder von jemandem wirklich verstanden.

Nach einer Stunde endet die Rückblende und mündet in das Anfangsbild, als Hans Ella in das Lokal drängt. Dann wird die Geschichte der Geiselnahme erzählt - aber aus einer anderen Perspektive. So wird aus dem anfänglichen Thriller, der danach eine Art gesellschaftliches Absturz-Drama wird, ein intensives Kammerspiel. Nikolaus Leytner hat "Südpol" geschrieben und inszeniert. Leytner wurde schon Mehrfach ausgezeichnet und hat im vergangenen Jahr eindrucksvoll den Seethaler-Roman "Der Trafikant" verfilmt.

Mit "Südpol" ist ihm eine überraschende, aufregende und tiefsinnige Geschichte über das Leben gelungen. Leytner nähert sich diesem Menschen in höchster seelischer Not mit einem menschlichen, sensiblen Blick, wie er es auch in "Ein halbes Leben" (mit Josef Hader) und im Alzheimer-Drama "Die Auslöschung" (mit Klaus Maria Brandauer) getan hat. Aber nicht nur dieser Hans ist ein Sinnsuchender, muss Entscheidungen über sein Leben fällen. Auch Ella, die mit ihrer offenen Art und ihrer Natürlichkeit bei ihm neue Lebensgeister weckt, ihm zuhört und ihn verzaubert, steckt in einer Krise. Sie hat einen tollen Job in Südamerika in Aussicht, doch sie ist schwanger. Wie Hans und Ella sich, nachdem sich ihre Lebenswege kreuzen, aneinander abarbeiten, ist so intensiv, spannend und emotional, dass es eine Wucht ist. Vor allem die letzte halbe Stunde muss man gesehen haben. Klar, den Rest auch, sonst würde das nicht funktionieren. Wie Leytner diese Geschichte aufbaut, wie er den Pers-pektivwechsel vollzieht, Vergangenheit und Gegenwart verbindet, quasi ineinander fließen lässt, ist absolut sehenswert.

DK


"Südpol" läuft heute, Mittwoch, um 20.15 Uhr in der ARD.

Volker Bergmeister