Der stille Nachbar von der Waffen-SS

25.05.2009 | Stand 03.12.2020, 4:56 Uhr
Im örtlichen Telefonbuch ist Klaas Carel Fabers Name nicht zu finden. Auf dem Klingelschild gibt er sich weniger bedeckt. −Foto: Richter

Ingolstadt (DK) Er ist schon einige Male aufgespürt worden. Journalisten aus den Niederlanden haben seinen Wohnort zuerst entdeckt. Die Spur hat sie über Essen nach Ingolstadt geführt. Genauer gesagt in den Nordwesten, wo es leichtfällt, inmitten der Wohnsilos in der Anonymität zu leben.

 Hier, in einem der lang gezogenen Blöcke des Piusviertels, lebt Klaas Carel Faber mit seiner Frau. Unbehelligt, obwohl er laut Liste des Simon-Wiesenthal-Zentrums zu den zehn meistgesuchten NS-Kriegsverbrechern zählt. Nach der Auslieferung von John Demjanjuk aus den USA rückt nun der gebürtige Holländer wieder in den Fokus.
 
Faber ist mehrfacher Mörder, wie ein niederländisches Sondergericht am 7. Juni 1947 befand. Im Krieg war er demnach an Erschießungen von Widerstandskämpfern beteiligt. Bei den Ermittlungsbehörden ist die Rede von elf Liquidationen, andere Berichte gehen von doppelt so vielen aus. Dafür sollte Faber selbst mit dem Tod büßen – so wie sein ebenfalls an den Morden beteiligter Bruder Pieter Johan, der nach dem Krieg hingerichtet worden ist. Klaas lebt dagegen noch immer. Im vergangenen Januar hat er in Ingolstadt seinen 87. Geburtstag gefeiert, still und bescheiden, wie seine Nachbarn ihn kennen. Dass er heute noch seine Freiheit genießt, ist eine verworrene Geschichte – und lässt viele Fragen offen. Denn auch die Justiz weiß, wo sie ihn finden kann. Doch strafrechtlich ist sein Fall längst zu den sprichwörtlichen Akten gelegt worden. Die finden sich im Keller des Landgerichts Ingolstadt.

In seiner Heimat gilt der gebürtige Holländer als Nazi-Kollaborateur. Als Mitglieder der Waffen-SS waren er und sein Bruder automatisch deutsche Staatsbürger geworden. So sah es ein Führererlass vor. Die beiden Männer hatten sich zum Sicherheitsdienst bei den Besatzern gemeldet. In den Niederlanden werden die Fabers mit den so genannten Silbertannenmorden in Verbindung gebracht, der Erschießung von über 50 unbewaffneten Menschen durch die Waffen-SS. Klaas Fabers Todesurteil war nach der Hinrichtung seines Bruders 1948 in lebenslange Haft umgewandelt worden. Die Schuld des Mannes war für das Gericht indes keine Frage, "wobei der Angeklagte Gebrauch von seiner Machtposition machte", heißt es in der Urteilsbegründung.
 
Hinter Gitter sollte Klaas Carel Faber aber nur bis 1952 bleiben. An Weihnachten nutzt er mit anderen Gefangenen die Gelegenheit, um in einer spektakulären Aktion über den Kohlenkeller der Haftanstalt im niederländischen Breda ins Freie zu gelangen. Draußen, vor der Gefängnismauer, warten bereits Freunde und bringen die entflohenen Häftlinge über die Grenze nach Deutschland. Alte Kameraden aus Kriegszeiten sollen den Verbrechern den Weg geebnet haben, um sie wieder in Freiheit zu bringen. Zu den Flüchtigen zählt auch Herbertus Bikker, ein weiterer mutmaßlicher Naziverbrecher, einst bekannt und gefürchtet als "Henker von Ommen". Er soll unter anderem den Widerstandskämpfer Jan Houtmann erschossen haben. Ein deswegen von der deutschen Justiz eingeleitetes Verfahren gegen ihn ist im Februar 2004 wegen Verhandlungsunfähigkeit des Mannes eingestellt worden. Bikker ist am 1. November 2008 mit 93 Jahren gestorben.

Die Holländer haben indes den Fall des Nazi-Kollaborateurs Klaas Carel Faber nie aus den Augen verloren. Schon 1953, als er kurz nach seiner Flucht im Ruhrgebiet lebt, beantragt das Nachbarland seine sofortige Auslieferung. Deutschland lehnt ab, ist Faber doch durch den Führererlass selber Deutscher geworden.

"Nicht nachweisbar"

Statt dessen ermittelt die Staatsanwaltschaft Düsseldorf ab 1954 wegen der Kriegsverbrechen gegen den Mann. Das dortige Landgericht lehnt die Zulassung der Anklage mit Beschluss vom 27. September 1957 jedoch letztlich ab. Nach Durchführung der Voruntersuchung, so heißt es, seien die Faber vorgeworfenen Handlungen nicht nachweisbar, auch nicht seine Mittäterschaft. Der ehemalige Waffen-SS-Mann kommt frei und lebt mehr oder weniger unbehelligt in Deutschland. Am 28. Dezember 1961 zieht er vom Ruhrgebiet nach Ingolstadt und wohnt seither im Piusviertel. Seinen Lebensunterhalt verdient er bis zu seiner Pensionierung bei der Auto Union, der jetzigen Audi AG. Neben "lästigen" Journalisten, die ihn hier aufspüren, zeigt zwischenzeitlich auch die deutsche Justiz wieder Interesse an dem heute 87-Jährigen.

Das beginnt im Sommer 2003, als die Niederlande die Umsetzung des auf lebenslänglich lautenden Urteils gegen Faber beantragen. Etwa ein Jahr später, am 1. Juli 2004, befindet die zuständige Kammer am Landgericht Ingolstadt: "Die Vollstreckung des Urteils des Besonderen Kassationsgerichtshofes der Niederlande vom 14. Januar 1948 wird für nicht zulässig erklärt." Als Grund wird der Ausgang des Verfahrens von 1954 angeführt, wonach Faber keine Täterschaft zu beweisen sei. "Für uns handelt es sich derzeit um einen abgeschlossenen Fall", bestätigt Helmut Walter, Chef der Staatsanwaltschaft Ingolstadt. "Die Sache ist juristisch gesehen beendet."

Strafrechtlich hat der alte Mann offenbar nichts mehr zu befürchten. Aber kann er nachts noch ruhig schlafen? Zeigt er Reue? Sieht er sein damaliges Verhalten heute als Fehler an? Was in seinem Inneren vorgeht, wissen höchstens seine engsten Angehörigen. Auf Klingeln an seiner Wohnungstür öffnet er nicht, wie er auch sonst draußen wenig zu sehen ist. Dabei ist in seinem Umfeld zuletzt viel geschehen, seitdem das Projekt Soziale Stadt im Piusviertel läuft. Grünflächen sind angelegt worden, Häuser haben Balkone erhalten, viele Wohnblöcke erstrahlen in frischer Farbe – wie der Block der Fabers neuerdings in hellem Blau leuchtet. Das Rentnerdasein lässt sich hier aushalten, nur: Die Nachbarn bekommen den 87-Jährigen kaum zu Gesicht. "Der sagt höchstens mal Grüß Gott und ist gleich wieder weg", erzählt einer. "Sonst wissen wir nicht viel voneinander." Dabei wohnt der Mann seit 1961 Wand an Wand mit den Fabers. Öffentliche Spuren ihres Daseins gibt es nur wenige: Im Telefonbuch steht der 87-Jährige nicht, nur einmal taucht sein Name auf einer Spendenliste für Tsunami-Opfer auf.

Die Nachbarn reden überwiegend positiv von dem Ehepaar. Freundlich seien die beiden, aber wenig zugänglich. Dass Klaas Carel Faber als Kriegsverbrecher gilt, wissen sie seitdem der DONAUKURIER vor fünf Jahren über seine Geschichte berichtet hat ("Leben im Schutz eines Führererlasses"). Die verschlossene Art der Fabers hat für sie damit endlich eine Erklärung gefunden. Mit ihnen geredet hat darüber wohl keiner.

Unvorstellbar

Ja, es sei schlimm, was der Mann gemacht haben soll. "Aber muss man das alles nach über 60 Jahren wieder aufwärmen", fragt eine Frau aus dem Mietshaus. Die Vorstellung, dass der freundliche Herr von nebenan ein gemeiner Mörder sein soll, übersteigt ihre Vorstellung. Hilfloses Schulterzucken bestimmt die Reaktion, wenn Klaas Carel Fabers Vergangenheit zur Sprache kommt. "Mei, was soll man sagen", meint ein älterer Mieter und wirkt ratlos. Die Angehörigen der Opfer wüssten dazu sicher eine ganze Menge.