Beilngries
Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen

Nach dem Praxis-Ende: Wolfgang Brand erzählt von seinen 33 Jahren als Hausarzt in Beilngries

01.02.2019 | Stand 02.12.2020, 14:43 Uhr
Am Menschen interessiert: Für Wolfgang Brand war seine Tätigkeit als Hausarzt stets auch eine Leidenschaft. −Foto: Adam

Beilngries (arg) Ende vergangenen Jahres hat der Beilngrieser Arzt Wolfgang Brand seine Hausarztpraxis geschlossen: Nach 33 Jahren ist er in Ruhestand gegangen. Die Arbeit zu Beginn und zum Ende seiner Berufszeit könne man nicht mehr vergleichen, vieles habe sich grundlegend verändert, sagt Brand. Im Gespräch mit unserer Zeitung erinnert er sich an seinen persönlichen Werdegang, an emotionale Momente der Freude und Trauer mit Patienten, aber auch an abenteuerliche nächtliche Notdienst-Irrfahrten.

Ein Hausarzt, wie Wolfgang Brand immer sein wollte, der verschreibt nicht einfach im Akkord ein paar Grippemittel oder überweist nach einem Drei-Minuten-Schnell-Gespräch an den nächsten Facharzt. Ein Hausarzt nach seiner Vorstellung, sagt er, der nimmt sich Zeit, ist für den Patienten "im Ganzen" da, der kennt Familienverhältnisse, Lebensgeschichten und Sorgen, weiß von allen Krankheiten des Patienten und kann sie in Zusammenhang bringen. "Das Ganzheitliche eines Hausarztes sehe ich natürlich erstmal in medizinischem Sinne, aber auch in Bezug auf Persönliches. Wenn jedes Familienmitglied zum gemeinsamen Hausarzt geht, der wiederum alle Personen gut kennt, dann sieht dieser auch viele Krankheiten klar. Heute geht man zum Kinderarzt, Augenarzt, Hals-Nasen-Ohrenarzt, Frauenarzt, Diabetologen, Rheumatologen und so weiter - und schlimmstenfalls weiß keiner, wie und was der andere behandelt", bedauert Brand, der ganz am Ende des langen Gesprächs zugibt: "Heute würde ich nicht mehr Arzt werden wollen. So, wie die jungen Kollegen heute erzogen werden - mit ständigem Blick auf Kosten und entindividualisierte Medizin -, damit komme ich nicht zurecht. Datenschutz, das ganze Rechtliche. Meine ganze Mentalität spreizt sich dagegen, dass alles kostenoptimiert sein muss, dass alles digitalisiert sein muss. Die Bürokratisierung nimmt so viel Freude weg am eigentlich wunderbaren Beruf. Und insofern bin ich froh, dass ich jetzt aufhören darf."

Begonnen hat Wolfgang Brand seine Berufung als Hausarzt in Beilngries 1985. Auf Umwegen, durch eine glückliche Fügung, sagt er, wie vieles, denn: "Ich habe immer Glück gehabt im Leben." Geboren wurde er in Beilngries, "in ein privilegiertes Elternhaus hinein". Die Schulzeit verbrachte er, wie damals in diesen Kreisen üblich, schon in jungen Jahren auf Internaten, nur Weihnachten, Ostern oder die großen Ferien durfte er zu Hause verbringen. Kein Bedauern ist zu hören, wenn der 69-Jährige sich an diese Zeit erinnert. "Meine Welt habe ich mir mit Freundesgruppen geschaffen. Ich war einmal ein Schuljahr zu Hause, das war mir viel zu eng. Ich war froh, als ich wieder aufs Internat durfte."

Nach dem Abitur dann die große Frage: Was jetzt? Der erste Plan war: Psychologie studieren. "Dabei hatte ich Carl Gustav Jung, Siegmund Freud, Wilhelm Reich im Kopf, hatte mich in den letzten Schuljahren gegen politisch rechte Gruppen gestellt, mich bei Demonstrationen deutlich positioniert, Theatergruppe, viele Diskussionen, Idealismus, so wollte ich im Studium weitermachen. Und wurde in den ersten drei Semestern an der Uni in Regensburg mit Unmengen Statistik, Farben- und Arbeitspsychologie konfrontiert. Es hat mich in eine tiefe Adoleszentenkrise gestürzt." Schließlich bricht er ab und rappelt sich nach einer Phase mit vielen Zweifeln durch folgenden Gedanken auf: "Jetzt mache ich was richtig Schwieriges, etwas, das mir eigentlich fremd ist, mich herausfordert. Die Basis soll die Medizin sein, dann kann ich mit der menschlichen Psyche weitermachen." Oder einen ganz anderen Beruf wählen, denn auch Buchgestalter oder Grafiker wäre eine Option gewesen, erinnert sich Brand. Aber - erst das "Schwierige", ein Studium der Allgemeinmedizin in Erlangen. Und was als "Therapie und Aufgabe" beginnt, lässt den jungen Medizinstudenten fortan nicht mehr los. Als Assistenzarzt an Krankenhäusern in Augsburg, München und schließlich Kösching sammelt er Erfahrungen. "Es war unglaublich stressig und anstrengend mit langen Doppel- und Dreifachschichten ohne Pausen. Aber gerade in dem damals kleinen Landkrankenhaus in Kösching habe ich gemerkt: Es ist schön daheim. Und eine personenbezogene Medizin ist möglich."

1985 startet er in seinem umgebauten Elternhaus als "Herr Doktor". Wobei er sich den Doktortitel, auch da bleibt sich Brand treu, nicht mit Biegen und Brechen erwerben wollte. "Ich habe mit einer Doktorarbeit begonnen, in deren Verlauf ich Patienten nach einer Operation beim Erwachen ein bestimmtes Mittel spritzen sollte und ihnen einen Magenschlauch schieben. Das fand ich nicht nachvollziehbar. Und habe einen Freund gebeten, das an mir zu vollziehen, sozusagen im Eigenversuch. Es war furchtbar unangenehm und - wie ich wusste - völlig unnötig. Nur um ein Medikament durchzusetzen? Ich habe es hingeschmissen. Ganz ehrlich - weil mir der Titel wurscht war."

Wichtig sind ihm von Beginn an seine Patienten. Wenn Brand über den Praxisalltag zu erzählen beginnt, dann kommt nicht nur seine große Hingabe zum Arztberuf, sondern auch sein schauspielerisches Talent mit aller Macht zum Vorschein. Mit Gestik, Mimik und wechselnder Sprache erzählt er von dem, was ihm Patienten erzählt haben, er mit ihnen erleben durfte. Von der Familie beispielsweise, die ihn händeringend und weinend zum Opa holt. Der liegt am Boden, krebsrot, während die Großfamilie um ihn steht und weint: "Der Opa ist tot!" Brand wirft erst einmal alle aus dem Zimmer, nur eine Angehörige darf bleiben. Während er den alten Mann untersucht - und feststellt, dass dieser durchaus noch Lebenszeichen hat - lässt er sich berichten, was der Opa getan hat in den vergangenen Stunden. Schnell wird klar: Es liegt eine Vergiftung vor, der alte Mann hat im Garten gearbeitet und sich an einem Wolfsmilchgewächs, das er mit bloßen Händen in großen Mengen ausreißen wollte, vergiftet. Brand leistet erste Hilfe und probiert "zur Beruhigung der Angehörigen" selbst einen Tropfen der Pflanzenmilch. "Dann bin ich recht schnell weg, denn von der prompten Wirkung wurde ich selber überrascht, das Herz raste, ich bekam Hitzewallungen, Vergiftungserscheinungen eben. Aber - ich habe überlebt. Der Opa übrigens auch."

Bei einem Patienten muss er sich erst als Fassadenkletterer beweisen, ehe er untersuchen kann, weil sich dieser versehentlich ausgesperrt hat, ein andermal muss Brand als Tierarzt ans Werk. "Herr Doktor, der Hund hat einen Dorn in der Pfote, wenn sie schon grad da sind." Bei einem nächtlichen Notfalleinsatz im Winter landet er mit seinem Auto im Graben - und fährt mit Skiern weiter zum Patienten. Ein weiteres Mal ist der Wagen Totalschaden, als er eine Abkürzung heimwärts wählt und im wahrsten Sinne des Wortes "auf den Holzweg" gerät. Achsbruch, der Wagen ist schrottreif. Dramatisch klingen Einzeleinsätze für die Justiz, als die Staatsanwaltschaft München anruft und er eine Leiche untersuchen muss, noch in der Nacht, "im Kammerl neben dem Aufbahrungsraum im Leichenschauhaus am Friedhof".

Und dann gibt es die Erinnerungen, bei denen der begnadete Erzähler Brand Pause hat und der Arzt leise weiterspricht. "Wenn ein Mensch stirbt, im hochbetagten Alter, nach einem erfüllten Leben, dann kann das ein Segen sein, dann ist der Tod ein Geschenk, hat etwas Schönes", sagt er. "Aber furchtbar, wenn ein junger Mensch aus dem Leben gerissen wird, bei einem Unfall, wenn gar ein Kind stirbt." Dass ihn da manches Mal die Situation überfordert habe, "auch wenn ich es als Arzt natürlich nicht zeigen durfte", dass auch bei ihm da Tränen geflossen sind, einmal mit Eltern eines in der Sulz ertrunkenen Kindes, das sind Erinnerungen, "die vergisst man nie mehr im Leben. Nie."

Die Notarztversorgung, die veranlasst vom damaligen Landrat Konrad Regler bis in die 1990er Jahre durch die niedergelassenen Ärzte anders als im restlichen Bayern im Landkreis Eichstätt mit übernommen werden musste, verbindet Brand heute noch mit schlimmen Erinnerungen. "Wir mussten neben unserem hausärztlichen Dienst auch zu wirklich schweren Verkehrsunfällen bis hin zur Autobahn fahren und waren oft überlastet." 2011 ist Brand Mitgründer der "WIR"-Initiative, die sich für enge Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Kollegen von Heilberufen wie Physiotherapeuten oder Logopäden und entsprechende Finanzierbarkeit einsetzt, gegen Großkonzerne, die beide Leistungen kostengünstiger anbieten wollen. Und er warnt mit deutlichen Worten vor dem Ende der Hausarztkultur, denn "ob die wohnortnahe medizinische Versorgung auf Dauer gewährleistet werden kann, ist mehr als zweifelhaft".

Der Abschied von seiner Praxis fällt Brand, versichert er heute, nun erstaunlich leicht. An den Orthopäden und Allgemeinmediziner Martin Gerneth hat er alle Unterlagen in dessen neu errichtete Praxis übergeben können. Brands einstige Praxisräume werden bereits umgebaut, einen Teil übergibt er an seinen Sohn mit Familie als Wohnfläche, einen Teil hat er sich selbst als Büro eingerichtet. Denn ganz aufhören, das will er auch mit knapp 70 Jahren noch nicht. Einige Stunden in der Woche arbeitet Brand nun in einer Gemeinschaftspraxis in Denkendorf mit. "Mit viel Zeit für die Patienten, ohne Gedanken an Abrechnungen, Organisation und Datenspeicherung, diese Last ist von meinen Schultern und ich darf einfach nur purer Arzt sein", freut er sich. Daneben will er seine Familienchronik schreiben, "da habe ich einen Riesenfundus, weil viele mir ihre Unterlagen überlassen haben aus allen Richtungen der Familie". Zudem hat er in einem Heft über viele Jahrzehnte Sprüche von Patienten, alten Bauern und Dorfbewohnern, als dialektreiche Wortstudiensammlung zusammengetragen. Daraus will er nun in aller Ruhe "etwas machen". Und er plant vor allem, "mit Menschen" zu reden, ihre Geschichten niederzuschreiben. "Ich habe eine Riesenlust darauf, das Leben und die Menschen meiner Heimat noch besser kennenzulernen."