Neuburg
Der kritische Geist ist geblieben

Neuburgs ältester Mann: Der frühere Lehrer Heinrich Keller feiert heute seinen 100. Geburtstag

23.10.2018 | Stand 02.12.2020, 15:24 Uhr
Feiert heute einen raren runden Geburtstag: Heinrich Keller aus Neuburg. −Foto: Heumann

Neuburg (lm) Nein, der hat sich, bei der Wiederbegegnung nach etlichen Jahren, kein bisschen geändert.

Der aufmerksame Blick, das rege Augenspiel, dem nichts zu entgehen trachtet, eine Strenge, Akkuratesse und dann wieder dieser von scheinbarer Nonchalance getragene Witz, dem Ironie nicht fremd ist. Gut, die Motorik und das Hören sind nicht mehr ganz so, aber was heißt das schon bei einem Hundertjährigen. Heinrich und im Alter jetzt bevorzugt Heinz Keller feiert heute diesen raren, runden Geburtstag.

Und was heißt Motorik bei einem Menschen, der die längere Zeit seines Lebens mit einem Bein auskommen musste, weil ihm das andere im Krieg weggeschossen wurde. Aber zu den wichtigsten Gratulanten heute zählen die Kameraden von der Versehrtensportgruppe. Die Kameradschaft unter den Opfern zumal hielt Keller stets hoch. Und noch wichtiger waren ihm Freundschaften, nicht viele, aber stets anspruchsvoll gepflegte. Und wenn hier so sehr von der Vergangenheit gesprochen wird, nur deshalb, weil der Kriegsinvalide, als Pädagoge ein Überzeugungstäter, Humanist sie alle überlebte. Ganz nüchtern zieht der Mann Bilanz: "Es ist kein reines Vergnügen, so alt zu werden. " Dabei denkt Keller aber am wenigstens an sich selbst, an die nicht weniger werdenden Wehwehchen und oft genug auch Schmerzen. Es geht immer um die anderen, die Tochter zumal. Sie versorgt ihn heute, nachdem Ehefrau Sabine - Mitbegründerin und für eine ganze Generation Triebfeder der Neuburger Lebenshilfe - 2012 verstarb.

Sich selbst begegnet er nur mit denkbar höchstem Anspruch, unter dem früher auch seine Schüler schon mal zu leiden hatten. Ja, da kann man dem Lehrer Keller sogar Verständnislosigkeit vorhalten, die im Grunde freilich eher allzu ehrgeizigen Eltern gegolten haben mag. Verstand es der stets auch einer praktischen Ratio Zugewandte nie, wenn Schüler aufs Gymnasium gehen (mussten), obwohl sie partout nichts lernen, geschweige denn begreifen wollten.

Der eigene Blick schweift weit über den fachlichen Tellerrand - Deutsch, Französisch, Geschichte, später dann bezeichnenderweise auch der Ethikunterricht - hinaus. Mit seinen Freunden, Heinrich Renner etwa oder Albert Lidel, auch zwei solche Pädagogen-Legenden aus Gymnasialzeiten früherer Jahre, unternahm Keller ausgiebige Kunst-und Kulturreisen, wobei voran die Pfälzer Weinhänge und erst recht deren Erträge sehr wohl und sehr zu recht unter "Kultur" rangierten.

Unvergessen bei älteren Semestern die Aufführungen der damaligen Theatergruppe, betreut von Heinrich Keller, der auch ein mindest semiprofessionellen Ansprüchen genügender Pianist war. Gemeinsame Auftritte mit dem namensgleichen Erich Keller, seines Zeichens Erster Konzertmeister des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, führten mehrfach zu der irrigen Annahme, beide Kellers wären Brüder. Gute Freunde waren sie.

Schon aus der gemeinsamen Jugendzeit in Augsburg, wo Heinz Keller zusammen mit zwei Geschwistern in gutbürgerlichen Verhältnissen aufwuchs. Krieg und Verlust des Beines beendeten die Jugend jäh. 1950 kam die junge Lehrerfamilie nach Neuburg, zog sechs Kinder auf. Der kritische Geist ist wach geblieben. Auf dem Tisch vor dem Hundertjährigen liegen zwei dicke Wälzer, Gegenwartsliteratur das eine, ein Roman, das Lesebändchen schon jenseits der Seite vierhundert, daneben ein Schmöker über Zeitgeschichte.