Ingolstadt (DK) Rosarote Dragées "zur temporären Erzeugung künstlicher Intelligenz", Hirnkappen mit Elektroden, Fotografien von Säuglingen und Christusköpfen mit biometrischer Gesichtserfassung oder Ceranfeldschaber oder Klingelschilder in "pareidolischer Gesichtserkennung", kofferweise Gebisse, vermummte Köpfe - "Lost Identity" -, atavistische Selbstporträts, Exponate aus der Sammlung des Deutschen Medizinhistorischen Museums (DMM) oder ein Reisepass Frankensteins mit dem Konterfei des Monsters und den persönlichen Daten von Thomas Neumaier.
Der Ingolstädter Künstler und seine Frau Gabriele Neumaier haben im Freskensaal der Hohen Schule in Ingolstadt eine trefflich kritische, herrlich hintersinnige und gewohnt doppeldeutige Ausstellung zusammengestellt. "Das kleine Frankenstein Depot. Fotografien und Objekte zur künstlichen Intelligenz und natürlichen Dummheit" - eine Ausstellung des Kulturreferats in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Medizinhistorischen Museum entstanden - bietet im Frankenstein-Jubiläumsjahr einen spannenden Ansatz und viele Anregungen über Identität und Selbstoptimierung, Neumodellierung und Perfektionismus, über die Grenzen und Herausforderungen der technischen und digitalisierten Welten und über deren Risiken und Gefahren nachzudenken.
Vermessen, erfasst, kategorisiert werden Menschen schon lange, sagte die Direktorin des DMM, Marion Maria Ruisinger, in ihrer Eröffnungsrede mit Verweis auf die aktuelle Ausstellung im Museum, "Radiologie im Nationalsozialismus", und erinnerte an die Gräueltaten der Nationalsozialisten und die menschenverachtende Ideologie der Auslese und des Ausmerzens. In Hinblick auf den enormen (auch medizinisch) technischen Fortschritt, der auch kollektiven Exhibitionismus und Überwachungsmechanismen zur Folge habe, gehe es heutzutage darum, diese Entwicklungen kritisch zu hinterfragen. "Durch neue Möglichkeiten entstehen auch ungeahnte neue Problemkonstellationen und neue ethische Herausforderungen für unsere Gesellschaft. " Nachdenkliche Worte auch von Gabriel Engert, Kulturreferent der Stadt Ingolstadt, der in seinem Vorwort für den Katalog der Ausstellung über "das Zeitalter der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten" und das eigene Verhalten in den sozialen Netzwerken schreibt, in denen "virtuelle Identitäten entstehen, beinahe gänzlich abgekoppelt von der Realität".
Deutliche Worte fand Thomas Neumaier bei seinem Auftritt mit dem Regensburger Musiker Heinz Grobmeier als Weißkittel, einer Performance mit einem aberwitzigen Instrumentarium aus historischen Prothesen als Schlagzeug, blubberndem Blut, Herzschlag als Taktgeber und elektronischem Klangteppich. Ausgehend von Frankenstein "als Symbol für die gewissenlose biotechnische Grenzüberschreitung, für die Überschreitung aller ethischen und moralischen Grenzen im Wahn von Allmachts- und Kontrollfantasie" müsse man überprüfen, wie viel Frankenstein in jedem selbst steckt. Denn, so Neumaier: "Es geht um die Freiwilligkeit, mit der wir den von der Industrie vorgegebenen Idealen nachjagen. " Das sei es, was wirklich beunruhige. "Die Freiwilligkeit, mit der wir uns in unsere eigenen Surrogate verwandeln wollen. Die Freiwilligkeit, mit der wir die eigene Menschenwürde fortwerfen und das auch noch als Akt der Freiheit empfinden. Ich fühle mich erst wohl, wenn ich das geworden bin, was ich sein soll. "
Bis 7. Oktober, Freskensaal der Hohen Schule Ingolstadt, Goldknopfgasse 7; Öffnungszeiten: Di - So von 10 - 13 und 14 - 17 Uhr. Eintritt frei!
Katrin Fehr
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