Der erste Schritt in die Katastrophe

29.08.2014 | Stand 02.12.2020, 22:18 Uhr

Mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg
60 Millionen Menschen kamen weltweit ums Leben. Mit am schlimmsten traf es unsere polnischen Nachbarn. Dennoch sind die Beziehungen ein Dreivierteljahrhundert nach dem Angriff Nazi-Deutschlands so entspannt wie wohl nie zuvor.

Die ersten Schüsse des Zweiten Weltkriegs fielen am frühen Morgen. In der Danziger Bucht ankerte das deutsche Marineschiff „Schleswig Holstein“, kurz nach Tagesanbruch am 1. September 1939 nahm es den polnischen Militärposten auf der Halbinsel Westerplatte unter Beschuss. Etwa zur selben Zeit brachten deutsche Bomber hunderten schlafenden Einwohnern der zentralpolnischen Kleinstadt Wielun den Tod – die ersten Opfer eines Krieges, in dem bis zum Ende weltweit rund 60 Millionen Menschen ihr Leben verloren.

Der Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen wurde von der deutschen Propaganda als Reaktion auf einen angeblichen polnischen Angriff umgedeutet. „Seit fünf Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen“, sagte Adolf Hitler in seiner Rundfunkansprache. Auch das war eine Lüge: Geschossen wurde bereits eine Stunde zuvor. Und der angebliche Angriff auf den Rundfunksender der Grenzstadt Gleiwitz wurde von SS-Leuten in polnischen Uniformen verübt.

Für Polen war der deutsche Überfall der Beginn einer doppelten Katastrophe. Der deutsche Vormarsch verlief weitaus schneller, als polnische Regierung und Armee erwartet hatten. Am 17. September marschierte zudem die Rote Armee in Ostpolen ein. Offizielle Begründung war die Sorge um das Schicksal der dort lebenden Weißrussen und Ukrainer. Tatsächlich hatten Deutschland und die Sowjetunion im geheimen Zusatzprotokoll des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts – des so genannten Hitler-Stalin-Pakts – vom August 1939 ihre Interessengebiete in Osteuropa abgesteckt: Finnland, Estland, Lettland, ein kleiner Teil Polens sowie Bessarabien, das ungefähr dem heutigen Moldawien entspricht, wurden der Sowjetunion zugeschlagen, Litauen und der Großteil Polens dem Deutschen Reich. Polen wurde damit wieder einmal unter seinen mächtigen Nachbarn aufgeteilt.

Zwar erklärten England und Frankreich Deutschland den Krieg, doch die Polen waren in ihrem Kampf weitgehend auf sich gestellt. In Paris bildete sich eine polnische Exilregierung unter der Führung von General Wladyslaw Sikorski, die später von London aus arbeitete. In Polen selbst organisierte sich der Untergrund – nicht nur für den militärischen Kampf, sondern mit einem eigenen Gerichtswesen, Schulen, Universitäten und Verlagen.

Dass der Widerstand sich über so viele Bereiche der gesamten Gesellschaft erstreckte, war in Europa einzigartig. Die Polen, die nach der nationalsozialistischen Rasseideologie als Untermenschen galten, setzten sich auf diese Weise zur Wehr gegen ein Besatzungsregime, das ihnen nur die Rolle von Arbeitskräften für die deutsche Industrie und Landwirtschaft zugestehen wollte. Die Hochschulen waren geschlossen worden, ebenso die höheren Schulen. Während die westlichen Landesteile Polens in Deutschland „eingegliedert“ wurden, war das sogenannte Generalgouvernement in der Praxis ein großes Arbeitslager.

Der Besatzungsalltag war von Terror geprägt. Vor allem in den Westgebieten wurden Vertreter der polnischen Elite deportiert oder ermordet. Von Anfang an gab es Morde an Juden. Dass die deutschen Vernichtungslager auf dem Territorium des besetzten Polens errichtet wurden, war kein Zufall: Vor dem Zweiten Weltkrieg waren zehn Prozent der polnischen Einwohner Juden – die größte jüdische Diaspora Europas. Drei der sechs Millionen Opfer des Holocausts waren polnische Juden.

Zudem kamen im Zweiten Weltkrieg rund drei Millionen nichtjüdische Polen ums Leben – Widerstandskämpfer, Opfer von Razzien und Massenerschießungen, Zivilisten. Zehntausende wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert.

Nach Polen wandte sich die deutsche Wehrmacht anderen Ländern zu, Skandinavien, den Benelux-Staaten und Frankreich. Bald tobte der Krieg in ganz Europa, in Afrika und Asien, unter Beteiligung der USA ebenso wie Australiens. Am Ende war Deutschland ein Trümmerfeld und die Welt zweigeteilt zwischen dem Westen und der Sowjetunion samt ihren Vasallenstaaten.

Die Westerplatte, wo alles begann, ist heute ein beliebtes Ausflugsziel. Sonnenanbeter lassen sich unbeeindruckt von den Kränen und Industrieanlagen des Danziger Hafens am kleinen Sandstrand der Halbinsel nieder, nur wenige Schritte entfernt von den zerschossenen Trümmersteinen, die zum Schriftzug „Westerplatte“ zusammengefügt sind. Auf der Uferpromenade flanieren Spaziergänger vorbei an Kieferwäldchen.

Vor 75 Jahren war hier eine Trümmerwüste, der Wald abgebrannt nach Dauerbeschuss und Bombardements. Die Archivbilder von 1939 zeigen verkohlte Baumstümpfe und eine Kraterlandschaft. „Man ging davon aus, dass die knapp 200 Soldaten auf der Westerplatte die Anlage zwölf Stunden lang halten könnten“, erzählt Marzena, die auf einem Ausflugsschiff die Passagiere auf polnisch und deutsch über die Geschichte der Westerplatte informiert. „Aber sie hielten sieben Tage lang aus.“

Sieben Tage, dann waren die Wasser- und Munitionsvorräte erschöpft. Das Gebäude, in dem sich die meisten Verteidiger der Westerplatte verschanzt hatten, lässt ahnen, dass es sieben qualvolle Tage gewesen sein müssen, auf engstem Raum umgeben von Tod und Lärm und Staub der in die dicken Mauern einschlagenden Geschosse. Heute posieren Touristen und Schulklassen für Gruppenfotos vor den Ruinen, zwischen denen Gras und Bäume wachsen. Auf Gedenktafeln sind die Namen der Westerplatte-Kämpfer eingetragen.

Trotz der Materialschlacht waren die Verluste der Polen auf der Westerplatte gering: Nur 15 Soldaten starben. Ihre Gräber liegen heute im Schatten von Bäumen. Kerzen brennen, Besucher haben Fähnchen in den polnischen Nationalfarben weiß und rot an einige Gräber gesteckt – die Geschichte der Verteidiger der Westerplatte gehört für Generationen polnischer Schulkinder zur patriotischen Erziehung. Ein kleines Mädchen hat einen Kranz aus Gänseblümchen geflochten und auf einen Grabstein gelegt, daneben schmilzt in der Sonne ein Eis, das dem Gesetz der Schwerkraft gefolgt ist. In der Nachbarschaft wird mit Militaria Geld verdient: Gipsminiaturen des heroischen Denkmals, Gasmasken, Helme, Uniformteile. Eine Schaufensterpuppe trägt eine polnische Militärmütze und ein Bundeswehrhemd. Ein englischer Tourist wundert sich laut: „Ist das jetzt Ironie oder einfach Europa?“

Wenn am 1. September wie jedes Jahr Regierungsvertreter um 4.45 Uhr, dem Zeitpunkt der ersten Schüsse, Kränze niederlegen, wenn Pfadfinder und junge Soldaten mit Fackeln in der Morgendämmerung Mahnwache halten, ist keiner der Westerplatte-Verteidiger mehr dabei. Inzwischen sind auch die letzten Veteranen tot.

Noch vor wenigen Jahren waren bei Gedenkfeiern auf der Westerplatte nicht nur die überlebenden polnischen Veteranen dabei, sondern auch Deutsche, die an Bord der „Schleswig Holstein“ die Westerplatte beschossen hatten. Organisiert hatte die Begegnungen der Gründer der Organisation „Mission Versöhnung“, Tadeusz Kreps. „Sie haben sich nie gestritten“, erinnerte er sich in einem Interview zum 70. Jahrestag des Kriegsbeginns. „Die Beziehungen waren vielleicht nicht freundschaftlich, aber auf jeden Fall kollegial.“ Von deutschen wie polnischen Veteranen habe er gehört: „Nun kann ich leichter sterben, denn wir haben uns ausgesöhnt.“ Auch der Direktor des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschlandstudien an der Universität Breslau, Krzysztof Ruchniewicz, hat festgestellt: „In den Äußerungen der Kriegsgeneration gibt es keine eindeutig negative Meinung über das deutsche Volk insgesamt.“ Doch der Weg zu Versöhnung und Normalität war lang und schwer.

Als Deutschland am 8. Mai 1945 kapitulierte und der Krieg in Europa zu Ende war, gab es kaum eine polnische Familie, die nicht Schreckliches erlebt, Angehörige verloren hatte. Doch die Polen, obgleich sie vom ersten Tag an gegen die deutschen Besatzer gekämpft hatten, gehörten zu den Verlierern: Ihr Land wurde gegen den erklärten Willen der Londoner Exilregierung Einflussgebiet der Sowjetunion, die Ostgebiete wurden ihr ganz zugeschlagen.

Polen aus Vilnius und Lviv (Lemberg) mussten ihre Heimat verlassen, wurden umgesiedelt in die deutschen Gebiete, mit denen ihr Land für seine Verluste im Osten entschädigt worden war: nach Breslau, Danzig, Stettin. Das Vertriebenenschicksal wurde zu einer gemeinsamen Erfahrung von Deutschen und Polen – doch jahrzehntelang blieb die Angst vor der Rückkehr der Deutschen.

Erst die endgültige Anerkennung der Oder-Neisse-Grenze als polnische Westgrenze ließ diese Ängste schwinden. Selbst noch bei den EU-Beitrittsverhandlungen spielten sie eine Rolle. Mit Übergangsfristen für den Landkauf durch Ausländer wollte Polen vor allem sicherstellen, dass die Nachkommen der Vertriebenen nicht zurückkommen und sich ihr altes Land kaufen. Heute lassen sich mit der Angst vor den Deutschen keine Wahlen mehr gewinnen. Das musste der nationalkonservative Oppositionsführer Jaroslaw Kaczynski 2011 feststellen, als er kurz vor den polnischen Parlamentswahlen in einem Buch Bundeskanzlerin Angela Merkel „Großmachtstreben“ vorwarf. Noch 2005 hatte er bei den damaligen Wahlen gesiegt, als bekannt wurde, dass der Großvater seines Gegenkandidaten Donald Tusk in die Wehrmacht eingezogen worden war. Inzwischen regiert Tusk als erster polnischer Regierungschef seit 1989 eine zweite Amtszeit und hat ein als freundschaftlich geltendes Verhältnis zur deutschen Kanzlerin. Die Polen lernten zur allgemeinen Überraschung, dass Merkel einen polnischen Großvater hat.

Aber etwas Besonderes ist das mittlerweile eigentlich nicht mehr: In Deutschland stellen Polen mittlerweile den größten Anteil an ausländischen Ehepartnern. Auch in Polen stößt Umfragen zufolge ein deutscher Schwiegersohn, eine deutsche Schwiegertochter nicht mehr auf Ablehnung.

Dennoch sind die deutsch-polnischen Beziehungen für den Historiker Ruchniewicz „weiter eine Herausforderung“, wie er sagt. „Wir besuchen uns, wir tauschen uns lächelnd aus, aber wir diskutieren nicht miteinander, wir suchen in der Debatte keine weiteren Herausforderungen und gemeinsamen Ziele für die Zukunft.“ Auf gegenseitige Harmoniebekundungen sollten sich die Nachbarn jedenfalls nicht beschränken: „Ich glaube, gute deutsch-polnische Beziehungen sind eine Garantie der Stabilität in unserem Teil Europas, also ist ihre Vertiefung eine Notwendigkeit.“