Ingolstadt
Der Erste aus der zweiten Reihe

Zwischen Seehofer-Fanklub und INVG-Fahrplan: Wie sich Hans-Jürgen Binner Einfluss gesichert hat

13.07.2018 | Stand 02.12.2020, 16:04 Uhr
  −Foto: Fotos: Hauser, Silvester, CSU

Ingolstadt (DK) Seit der Erfindung der Bezirksausschüsse ist Hans-Jürgen Binner Vorsitzender dieses Gremiums im Stadtbezirk West.

Oder bringen wir da vielleicht etwas durcheinander? War es in Wirklichkeit der CSU-Ortsverband West, dem er gefühlt von Anbeginn an vorsteht? Man verwechselt leicht etwas in einem selbsternannten Premiumdorf wie Gerolfing, in dem die Freiwillige Feuerwehr politische CSU-Abende veranstaltet - oder die CSU Jubiläumsfeste der Feuerwehr. Wer weiß das schon so genau. Wie es ja auch immer wieder vorkommt, dass junge DK-Kollegen, die gerade in der Lokalredaktion angefangen haben und das Thema Öffentlicher Nahverkehr beackern sollen, den Altgedienten die Frage stellen: Wie heißt eigentlich der Chef bei der INVG?

AUFTRITT IM FESTZELT

Hier lauter richtige Antworten: Hans-Jürgen Binner - in dieser Woche 60 Jahre alt geworden - ist seit 1991 Vorsitzender des Seehofer-CSU-Ortsverbandes West und seit 2002 des Bezirksausschusses West. Bei der INVG wird er offiziell als Geschäftsstellenleiter und Prokurist geführt, der Geschäftsführer heißt dagegen Robert Frank.

Selbst wer sich als erfahrener Pressebeobachter alle Mühe gibt, die verschiedenen Binners im Kopf auseinanderzuhalten, schafft es nicht immer. Da muss man am Abend des 25. Juni im Gerolfinger Feuerwehrfestzelt als Berichterstatter gar kein Bier getrunken haben. Zu den Klängen des Bayerischen Defiliermarsches und unter Applaus des Publikums zieht Landtagspräsidentin Barbara Stamm ein, geleitet vom stolzen CSU-Ortsvorsitzenden, gefolgt vom örtlichen Tross der Feuerwehrführer, den Festdamen, dem OB, dem Bürgermeister, den Landtags-, Bezirkstags- und sonstigen Kandidaten der Mehrheitspartei.

Als alle am Tisch der Ehrengäste Platz genommen haben, will es der Zufall, dass genau gegenüber von Binner Bürgermeister Albert Wittmann zum Sitzen kommt. Ausgerechnet jener CSU-Mann, der in seiner früheren Eigenschaft als unbarmherziger Finanzkommissar einen INVG-Visionär Binner ein ums andere Mal verhindert hat. Würde Binner in einem Bus Wittmann beim Schwarzfahren erwischen, so lästern manche in der CSU, er würde ihn glatt bei der Polizei anzeigen. Doch das dürfte nicht das einzige zerrüttete Verhältnis sein, das der Ex-Kämmerer in Politik und Stadtverwaltung hinterlassen hat.

SCHARF GEGEN MERKEL

Binner jedenfalls lässt sich beim Jubiläumsabend der Feuerwehr von all dem nichts anmerken und hält seine Begrüßungsrede, hinter sich die jederzeit startbereite Blaskapelle Kolpingia, neben sich beinahe mannshoch die blauen Initialen der Christlich-Sozialen Union und über sich nur den lieben Gott, das heißt, ein farbiges Abbild der Pfarrkirche St. Rupert. Jetzt gilt es, den forschen Grenzschutzwächter gegen die feindlichen Flüchtlinge zu geben und treu seinem Idol Horst Seehofer zur Seite zu stehen.

"Die CSU weiß im Asyl- und Grenzstreit die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich", ruft er ins dampfende Bierzeltbiotop, "es wird dringend Zeit für eine Umkehr zu Recht und Ordnung", denn dieser "dreiste Asyltourismus widerspricht dem gesunden Rechtsempfinden". Ganz knapp vorbei am "gesunden Volksempfinden", das vor 80 Jahren schon einmal eine allzu gängige Redensart in Deutschland war. "Wir erleben in vielen Bereichen eine Art Staatsversagen, die Grenze kann nicht gesichert, Recht nicht durchgesetzt werden", wiederholt Binner Attacken auf die CDU-Kanzlerin, die man vor einigen Jahren fast im gleichen Wortlaut aus dem Mund Horst Seehofers gehört hat. Überhaupt scheint ihn noch nie der leiseste Zweifel am Tun des großen Parteivorsitzenden angefochten zu haben.

"Der Binner war lange Seehofers Kettenhund in der Ingolstädter CSU", verrät einer aus dem Kreisverband, der die Rolle des Gerolfingers über all die Jahre gut einschätzen kann. "Der Binner hat in der CSU das vorgebracht, was der Seehofer nicht sagen wollte. " Einfluss in der Partei habe er sich auf eine Art verschafft, die in der Öffentlichkeit nie groß diskutiert wurde.

Und das ging so: Die zwölf Ortsverbände der Ingolstädter CSU bestimmen letzten Endes, wer auf der Stadtratsliste die aussichtsreichsten Plätze hinter der Spitzengruppe bekommt - vorausgesetzt, sie stimmen sich entsprechend vorher ab und verschaffen sich entsprechende Mehrheiten bei der Delegiertenversammlung. So habe der Gerolfinger als "heimlicher Vorsitzender der Ortsverbände" - er hat die anderen elf zu den inoffiziellen Treffen eingeladen - in den vergangenen 20 Jahren das Gewicht der Basis gesteigert.

Dass er "in Gerolfing Horst Seehofers Chef" geworden ist, wie der Ortsvorsitzende selbst mit einem Augenzwinkern im DK-Gespräch sagt, wurde erst durch den Umzug seiner Familie 1983 möglich. "Ich bin als Ingolstädter in der Liebl-Klinik geboren, aber auch getaufter Gerolfinger. " Das Aufnahmeritual in die dortige Junge Union - es erinnert etwas an ähnlich merkwürdige Bräuche, wie sie noch bei Rekruten vorkommen sollen - war offensichtlich für den Neu-Gerolfinger gleichermaßen prägend wie für den Jung-Politiker. "Man hat mich auf Herz und Nieren geprüft, ob ich wirklich dazupasse. Bei einem Grillfest bin ich im Blechwandl mit Bier getauft worden. " Da sei ein "echter Freundeskreis" entstanden.

"Zugezogene", sagt Binner, "werden in Gerolfing aufgenommen, wenn sie bereit sind, sich zu integrieren. " Die Mitgliedschaft in der CSU und ein eigenes Haus, so könnte man als Außenstehender ergänzen, sind bei diesem Integrationsprozess sicher nicht hinderlich. Und eine Obergrenze für diese Art Zuwanderung in Gerolfing ist bislang auch nicht absehbar.

An eine Grenze ganz anderer Art ist viele Jahre später der Bezirksausschussvorsitzende Binner - inzwischen Familienvater von zwei Kindern - im westlichen Stadtteil gestoßen. Da war es plötzlich vorbei mit dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Gerolfinger, da hörte der Spaß auf, denn es ging um die Trasse eines Hochwasserdammes im Süden des Ortes - gleichzeitig um wertvolle Bauplätze der Zukunft, also um sehr viel Geld.

Im Juli 2002 tritt im Sportheim der Bezirksausschuss zusammen, an der Spitze ein noch unerfahrener und überforderter Vorsitzender Binner. Die Fronten zeigen sich knallhart und unversöhnlich: Auf der einen Seite eine Interessengruppe für die Deichtrasse am Waldrand (und Baulandperspektiven), auf der anderen Wasserwirtschaft und Umweltreferat als Vertreter der öffentlichen Interessen.

Lautstärke und Aggressivität steigen in einem Ausmaß, wie sie der DK-Reporter seitdem bei keiner Bürgerversammlung mehr erlebt hat. "Mia san hier im Bezirksausschuss", wehrt sich der bedrängte Vorsitzende, "und nicht in einer kabarettistischen Veranstaltung! " Die Veranstaltung gerät außer Kontrolle. Wütende Aktivisten reißen Binner das Mikrofon aus der Hand, schreien ins Publikum. Am Ende gibt der total eingeschüchterte Ausschusssprecher dem Druck nach und lässt einen Beschluss verabschieden, der zwar erst einmal den Tumult beendet, aber nie umgesetzt wird.

Nach dieser Lehrstunde in Sachen Populismus wird Binner noch viele Sitzungen des Ortsteilgremiums leiten. Inzwischen ist er längst dafür bekannt, dass er sich und die Mitglieder des Gremiums so gründlich mit Unterlagen vorbereitet wie kein anderer Kollege. "Ich kenne niemanden, der so effektiv aus der zweiten oder dritten Reihe heraus Politik macht wie er", bescheinigt ihm ein langjähriger Stadtrat, seinerseits aus den oppositionellen Reihen. "Nur dem Wittmann mit seinem Spardiktat, dem konnte er nie Paroli bieten, gegen den hat er sich nie durchsetzen können. "

"ALTER STRIPPENZIEHER"

Bei einem anderen Oppositionspolitiker rührt die - durchaus respektvolle - Bekanntschaft noch aus seiner Zeit als Journalist. Als er 1979/80 kritisch über Binner und dessen JU-Aktivitäten im Rathaus geschrieben habe, erzählt der heutige SPD-Fraktionschef Achim Werner, habe der das "sportlich genommen". Wenn er den Gerolfinger einen "alten Strippenzieher" nennt, klingt es wie ein echtes Kompliment. Zumal dieser Strippenzieher sich von Anfang an für den Öffentlichen Nahverkehr sehr engagiert habe.

Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet an Binners 60. Geburtstag vor wenigen Tagen mit großem Politikerzeremoniell im Alten Rathaus die Verträge für einen regionalen Gemeinschaftstarif unterzeichnet wurden. Der Jubilar selbst, der einst nach Mittlerer Reife und Verwaltungsausbildung als Sachgebietsleiter Nahverkehr begonnen hatte, war derweil auf die Insel Jersey verreist.

"DAS GESICHT DER INVG"

"Bei vielen Ingolstädtern", glaubt ein Stadtrat, "ist er das Gesicht der INVG und nicht der Frank. " Die gewöhnungsbedürftige Konstellation in der Führung der Verkehrsgesellschaft wurde von manchem Parteifreund Binners schon mit einigem Argwohn betrachtet. Als etwa der jetzige Geschäftsführer Frank sein Amt antrat, galt der intern zeitweise sogar als potenzieller OB-Kandidat der CSU. "Aber der hat's ja nicht einmal geschafft, bei der INVG in der Dollstraße im wichtigsten Büro zu sitzen", stichelt ein CSU-Mann. Das hatte nämlich Binner für sich okkupiert und nicht räumen wollen. Die Machtbewussten in der Partei haben darin nicht gerade ein Indiz für Franks Durchsetzungsfähigkeit gesehen. Hinzu kommt bei Binner, dass ihm seit seiner INVG-Pionierzeit unter dem ehemaligen Stadtdirektor Fritz Kroll eine seltsame Art von Art Immunität zuwuchs, die ihn wohl davor bewahrte, von einem Rivalen kaltgestellt zu werden. Die Erklärung eines Insiders der Partei: Wenn einer genau weiß, bei wem von den führenden Leuten Leichen im Keller zu finden wären, dann ist es der Gerolfinger.