Der Dirigent im U-Bahnhof

15.09.2011 | Stand 03.12.2020, 2:24 Uhr

Norbert Grünleitner meistert seinen Job mit viel Humor. Er sorgt mit seinen Durchsagen für Sicherheit am Bahnsteig - Foto: Bartmann

München (DK) Während des Oktoberfestes ist auch unter der Erde in München jede Menge los, vor allem im U-Bahnhof Theresienwiese. Von hier strömen die Massen auf das Festgelände – gelotst werden sie von Norbert Grünleitner.

Der 43-Jährige ist ein vortrefflicher Dirigent. Er braucht dafür aber kein Orchester, keine Kapelle und keinen Taktstock. Es hat nicht einmal was mit Musik zu tun, wenn er dirigiert. Sein Orchester sind die Massen, sein Taktstock ist seine Stimme und seine Bühne ist eine kleine Kanzel im Münchner U-Bahnhof Theresienwiese. Wenn sich in den kommenden 17 Tagen Millionen aus aller Welt von dort auf das Oktoberfest drängen, dann gibt Norbert Grünleitner am Bahnsteig den Rhythmus der Menge vor – mit bayerischer Gelassenheit und ganz viel Münchener Charme.

Fast zwei Drittel aller Wiesn-Besucher kommen mit der U-Bahn zum Fest, alle drei bis vier Minuten hält ein Zug, randvoll mit gut 1000 Menschen. Für Norbert Grünleitner und seine Kollegen von den Münchner Verkehrsbetrieben ist das Tag für Tag Schwerstarbeit: Aufpassen, dass die Menschen nicht zu sehr drängeln, dass kein Betrunkener ins Gleis fällt, dass alles friedlich bleibt. Vor allem aber müssen sie schauen, dass sie dabei immer den richtigen Ton treffen. „Die Leut’ wollen alle zum Feiern, da kann man sie nicht anschreien wie bei der Bundeswehr“, sagt Grünleitner. Übersetzt heißt das: Zur Wiesn verwandelt er den Münchner Untergrund schon mal in eine Kabarett-Bühne. Wer den 43-Jährigen in seiner Kanzel erlebt, fühlt sich ein wenig an Ludwig Thomas „Münchner im Himmel“ erinnert, nur eben unter Tage. „Ned drängeln, es gibt oben noch genug Maß, ich hab extra nachg’schaut.“

Mit solchen lockeren Sprüchen will Norbert Grünleitner die Leute bei Laune halten. „Die Fahrgäste sollen mir zuhören. Nur so kann ich dafür sorgen, dass bei diesem Andrang nix passiert und alles geordnet bleibt“, sagt er. Worüber der Wiesnbesucher gern mal schmunzelt, dient letztlich der Sicherheit am Bahnsteig. Die Menschen würden flapsige Sprüche von einem Ansager am Bahnsteig normalerweise nicht erwarten, sagt Grünleitner. Aber genau deshalb hört jeder zu, wenn er in sein Mikrofon spricht. Was er übrigens bewusst in einem gepflegten Münchnerisch tut, „weil es einerseits schön bayerisch klingt, aber das auch der Hamburger und der Berliner noch versteht.“ Und zur Belohnung bekommt der Bahnsteig-Ansager schon mal ein paar gebrannte Mandeln oder ein Stück Zuckerwatte in seine Kanzel gereicht. So viel, dass er zum Ende der Wiesn schon fast keine Mandeln mehr sehen kann.

Eines darf Norbert Grünleitner natürlich nie vergessen bei all der Lockerheit, nämlich alles genau im Blick zu haben, was auf dem Bahnsteig passiert. Wo sind hektische Bewegungen? Wo bahnt sich möglicherweise eine Schlägerei an? Letzteres passiert erstaunlich selten, sagt Grünleiter. „Weit über 99 Prozent der Leute sind absolut friedlich.“ An ein Erlebnis aus seinen 15 Jahren bei der Münchener U-Bahn kann sich der 43-Jährige aber noch genau erinnern: als plötzlich eine hochschwangere Frau mitten am Bahnsteig zusammenbrach und die Wehen einsetzten. „Mei, da is mir schon erstmal anders geworden“, erzählt Grünleitner, der heute dabei herzlich lachen muss. „Ich hab schon geglaubt, wir bekommen eine kleine Theresia.“ Theresia, oder welchen Namen das Kind auch immer bekommen hat, kam dann aber doch nicht, sondern hat brav auf die Sanitäter gewartet.

Es sind solche Geschichten, weshalb Norbert Grünleitner seinen Job und die Wiesn so gern mag. Vor seiner Sprecherkanzel hat er schon so gut wie alles erlebt, sagt er, von Liebespaaren, die wohl dachten, sie wären allein in der U-Bahn, bis zum finalen Ehekrach. Auch wenn es manchmal stressig ist, er meldet sich für den Sprecherjob jedes Jahr freiwillig, meistens schon im April oder Mai. Bei seinen sechs bis sieben Kollegen, die ausschließlich zur Wiesn in den vier U-Bahnhöfen Theresienwiese, Hauptbahnhof, Goetheplatz und Odeonsplatz die Kanzel besteigen, sei das nicht anders.

Nur zwei Tage haben die U-Bahn-Ansager während der Wiesn frei. Und einen davon wird Norbert Grünleitner nutzen, um selbst auf eine Maß zur Wiesn zu schauen. „Des reicht mir scho,“ sagt er.