Der Club der toten Kicker

08.09.2011 | Stand 03.12.2020, 2:26 Uhr

Gestorben beim Eishockey: Bruno Pezzey - Foto: Imago

Straelen (DK) Der Friedhof der Fußball-Bundesliga steht in Straelen am Niederrhein. In einem schmucken Einfamilienhaus im Grünen. Im Keller. In drei Leitz-Ordnern mit weißen Rücken. Ein Besuch bei Peter Plum, der darauf achtet, dass keiner der 240 verstorbenen Bundesligaspieler vergessen wird.

Straelen (DK) Der Friedhof der Fußball-Bundesliga steht in Straelen am Niederrhein. In einem schmucken Einfamilienhaus im Grünen. Im Keller. In drei Leitz-Ordnern mit weißen Rücken. Ein Besuch bei Peter Plum, der darauf achtet, dass keiner der 240 verstorbenen Bundesligaspieler vergessen wird. Und dass sich die Spur auch des unbekanntesten Profis nicht im Nichts verliert.

Eine simple Excel-Liste, ausgedruckt auf vier Seiten, ist alles, was Plum braucht. Es sind 240 Einträge, von Toni Allemann bis Dieter Zorc. Nationalität, Todesdatum, Vereinsname als Kürzel – mehr steht da nicht. Sie alle waren irgendwann seit 1963 bei einem Fußball-Bundesligisten unter Vertrag, sie alle posierten für Fotografen, die die Bilder für die Sammelalben knipsten. Viele machten Schlagzeilen. Bei einigen waren die Letzten die Größten.

Aus Verzweiflung über geschäftliche Misserfolge erschoss sich der ehemalige Nürnberger Hubert Schöll. Der frühere Kölner Torwart Slobodan Topalovic prallte bei einem Altherren-Spiel in Frankreich mit einem Gegner zusammen und erlag seinen Schädelverletzungen. Das Herner Jahrhundertalent Lutz Gerresheim war gerade dabei, sich einen Stammplatz beim VfL Bochum zu erobern, als er mit seinem Auto auf eisglatter Straße verunglückte. Noch heute, über 30 Jahre nach seinem Tod, erinnert ein Jugendturnier an ihn.

Wer kennt noch Anton Gigl, den Löwen-Torwart hinter Petar Radenkovic? Wer erinnert sich noch an Dieter Haßdenteufel, beim 1. FC Saarbrücken ein Spieler der ersten Stunde? Albert Bittlmayer von Tennis Borussia Berlin, Georg Bosbach vom 1. FC Köln, Dieter Koulmann von Bayern München, Alban Wüst von Schalke 04 – wem sagen diese Namen noch etwas?

Peter Plum. Ganz ruhig sitzt er da, die Excel-Liste in der Hand. Zu jedem der verstorbenen Spieler kann er eine Geschichte erzählen, alles aus dem Kopf. Er tut das ohne Pathos, ohne dramatisierende Akzente. Und er ist ehrlich, wenn er über den Impuls für sein Archiv spricht. „Natürlich ist es schön, dass damit die Erinnerung auch an viele kaum bekannte Spieler erhalten wird. Aber ich bin Sammler, ich wollte einen klar umrissenen Bereich komplett und verlässlich abdecken und alles korrekt recherchieren.“

Das ist ihm auch in aussichtslosen Fällen gelungen, nur von einem Dutzend ehemaliger Bundesligaprofis verliert sich die Spur. Zusammen mit gleichgesinnten Sammlern arbeitet Plum daran, sie informieren sich über ihre Fahndungserfolge, tauschen Informationen, Dokumente, Fotos. Bevor er an Angehörige schreibt, formuliert er sorgfältig respektvolle Texte. Plum hat ein Netz aus Freunden und Kollegen, aus Journalisten und Vereinsarchivaren über das Fußball-Land geworfen; sie alle passen auf und schicken Kopien von Zeitungsartikeln, Nachrufe und Todesanzeigen nach Straelen.

Aufs Hörensagen mag Plum sich nicht verlassen. Er braucht Belege, die den Tod eindeutig dokumentieren. Wohin es führen kann, wenn man es anders macht, weiß er auch: Weil sowohl bei Werder Bremen als auch bei Hannover etwa zur gleichen Zeit ein Mann namens Dieter Meyer spielte, kam es durch eine schlampige Journalisten-Recherche zu einer Verwechselung: Jahrelang galt der Bremer Stürmer Meyer als tot, dabei war der 96-Torwart Meyer verstorben.

Peter Plum kann viele solcher Geschichten aus dem Leben eines Jägers und Sammlers erzählen. Denn die Ehrenliste der toten Bundesligaprofis entstand als Nebenprodukt seiner Autogrammsammlung, die gigantische Ausmaße hat: Über 200 000 Signaturen auf Sammelbildern und Fotos hat er archiviert; der Schwerpunkt liegt auf seinem Lieblingsverein Borussia Mönchengladbach.

Für jeden der verstorbenen Bundesligaspieler hat Plum eine kleine Akte zusammengetragen: Dokumente, Nachrufe, Zeitungsartikel und mehrere Sammelbilder mit Autogramm. Er blättert in den Ordnern und zeigt die Todesfälle, die ihm nahe gingen und ihn beschäftigten.

Zum Beispiel Heinz Bonn. Das Verteidigertalent aus Wuppertal scheiterte beim Hamburger SV nicht nur wegen einiger Verletzungen, sondern auch wegen seiner Homosexualität, die er vor allen verbarg und verbergen musste, damals in den frühen siebziger Jahren. Daran zerbrach er, seine Karriere endete früh. Bonn rutschte sozial ab, verfiel dem Alkohol. Im November 1991 wurde er in seinem Appartement in einem anonymen Hochhaus in Hannover erstochen. Eine Sonderkommission ermittelte, doch der Mord – angeblich von einem Strichjungen verübt– wurde nie aufgeklärt.

Oder Jürgen Moll. Der Braunschweiger Allrounder war einer der Asse der Meistermannschaft von 1967 gewesen; mit seiner Frau, der Schauspielerin Sigrid Moll, hatte er Zwillinge. Mit ihr war er am 16. Dezember 1968 auf dem Rückweg aus einem Kurzurlaub auf Sylt, als der Wagen bei Schnee und Eis in die Leitplanke krachte. Der 29-Jährige starb an der Unfallstelle, seine Frau auf dem Weg ins Krankenhaus.

Für ein Benefizspiel zu Gunsten der verwaisten Töchter des allseits geschätzten Sportlers stellte sich auf Initiative von Altbundestrainer Sepp Herberger die legendäre Weltmeisterelf von 1954 zur Verfügung. Am 14. April 1969 traten die Helden in Bern vor ausverkauftem Haus in Braunschweig an – zum ersten und einzigen Mal nach dem 3:2 gegen Ungarn spielten Fritz Walter und seine Männer vollzählig zusammen.

Oder Rudolf Schmidt. Den wuchtigen Stürmer hatte sich der FC Bayern München 1966 ein Jahr nach dem Aufstieg als Pendant für Gerd Müller vom MSV Duisburg geholt. Das rote FCB-Trikot hatte der 25-Jährige nur bei einem Fototermin, aber noch bei keinem Spiel getragen, als er – zusammen mit seinem Teamkollegen Dieter Koulmann – mit seinem neuen Sportwagen verunglückte. Schmidt war sofort tot, er hinterließ seine Frau mit einer eineinhalbjährigen Tochter. Koulmann überlebte schwer verletzt.

Das Schicksal eines ehemaligen Mönchengladbachers hat Plum besonders fasziniert. Valdimir Durkovic, in den ersten Bundesligajahren am Bökelberg aktiv, wurde 1972 im schweizerischen Sion in einer Bar erschossen – von einem angetrunkenen Polizisten. Über den mysteriösen Fall möchte der 57-Jährige mehr wissen. Wenn der selbstständige Finanzberater in drei Jahren in den Ruhestand geht, will er den Fall vor Ort recherchieren.

Ob es sich um Weltklassespieler handelt wie den Österreicher Bruno Pezzey, der beim Eishockeyspiel dem schnellen Herztod erlag, oder um längst vergessene Kicker wie den Berliner Tasmanen Jürgen Lindner, der sich in seinem hauptberuflichen Einsatz als Feuerwehrmann einen Katzenbiss zuzog, an dessen Folgen er verstarb – für Plum sind sie alle gleich. Respektvoll, aber hartnäckig sucht er nach den Geschichten ihres Todes und hält sie fest für die Nachwelt.

Jeder der 240 hat seinen Platz in einem der Ordner. Dokumente, Zeitungsartikel, Nachrufe, Todesanzeigen, Briefe – und natürlich die Original-Autogramme auf den Sammelbildern. Für jeden Spieler gibt es eine Klarsichthülle, die Sammlung ist alphabetisch sortiert. Drei Ordner, so viele Schicksale. Seltsame, traurige, tragische und dramatische. Gesammelt, geordnet, geprüft. Geschützt vor dem Vergilben. Und vor dem Vergessen. Im Club der toten Kicker. In drei Ordnern in einem Keller in Straelen am Niederrhein. Der Friedhof der Bundesliga.