Ingolstadt
Der Atem der Musik

Akkordeonist Aydar Gaynullin und Dirigent David Robert Coleman zu Gast beim Georgischen Kammerorchester in Ingolstadt

30.01.2015 | Stand 02.12.2020, 21:42 Uhr

Mit dem russischen Akkordeonisten Aydar Gaynullin und dem britischen Dirigenten David Robert Coleman gastierten zwei unkonventionelle Musiker beim Georgischen Kammerorchester in Ingolstadt. Am Ende gab es Standing Ovations - Foto: Schaffer

Ingolstadt (DK) Etliche leere Sitzplätze stechen im Auditorium des Ingolstädter Festsaals ins Auge. Den imaginären Personen auf diesen Plätzen möchte man zurufen: „Sie haben da etwas verpasst!“

Zunächst sieht es allerdings anders aus. Der hochkarätige Gastdirigent des Abends, David Robert Coleman, derzeit neben zahlreichen Einladungen von Weltklasseorchestern Dirigent an der Berliner Staatsoper, hebt die Arme zum Einsatz. Das Georgische Kammerorchester Ingolstadt lässt Béla  Bartóks „Divertimento für Streichorchester“ erklingen. Der Kopfsatz enttäuscht, klingt vernebelt und abgeflacht. Im kleinen Dynamikumfang der Interpretation versackt die stechend archaische Diktion der Komposition in Belanglosigkeit.

Die Macht der Bilder über menschliche Empfindungen ist unbestritten. Wenn wir die Reihenfolge verkehren, erhalten wir so etwas wie die Übertitelung dieses eindrucksvollen Konzertabends. Das Menschliche in allen Schattierungen, das über das Medium „Musik“ Bilder erschafft. Bartók schrieb dieses Divertimento in Erwartung des Zweiten Weltkriegs. Der zweite Satz „Molto adagio“ in der Interpretation des Georgischen Kammerorchesters vermag die beklemmende Düsternis der damals bevorstehenden Ereignisse schemenhaft in den Raum zu zeichnen – in hilfloser, ahnender Furcht.

Ein unsichtbares Band führt zum amerikanischen Komponisten Bernard Herrmann und dessen Werk „Psycho, A Suite For Strings“. In seinen Stilmitteln Bartók nicht unähnlich, ist mit diesem dreisätzigen Werk ein Auszug aus der elfteiligen Filmmusik zu Hitchcocks „Psycho“ zu hören. Innenschau, Außenschau, Absicht und Abgrund – auch hier entstehen Bilder, die mit den Szenen des Films zu beängstigender Scheinrealität verschmelzen. Dem im Opernkontext ausgesprochen erfahrenen Coleman scheint diese Aufgabe der „Grenzüberschreitung“ auf den Leib geschnitten zu sein.

Starsolist des Abends ist Aydar Gaynullin, Akkordeonspieler, Komponist und Fremdkörper der angenehmsten Art im oft spröden klassischen Spielbetrieb. Akkordeonklänge aus dem Bühnenhintergrund, Gaynullin tritt auf die Bühne und spielt sich seine eigene „Entrada“. Schwarzer Hut auf dem Kopf, darunter der Schalk – das Bild eines Straßenmusikers, der sich in einen Konzertsaal verirrt hat, drängt sich auf. Spinnt man das Bild der „Straße“ als Tor zur Welt weiter, ist man auf der richtigen Spur. Neben beeindruckenden Interpretationen der beiden Astor-Piazzolla-Kompositionen „Oblivion“ und „Libertango“ sind vor allem die Eigenkompositionen Gaynullins ein absolutes Faszinosum. Titel wie „Eurasia“ und „Oriental Rhapsody“ sind eigentlich unzureichend, sind die Stücke doch nicht weniger als „Weltmusik“. Wo andere 80 Tage um die Welt brauchen, genügen hier 15 Minuten atemberaubende Artistik im Dienste unglaublicher Ausdrucksstärke auf dem wie ein vergrößertes Bandoneon wirkenden Instrument.

Bilderrausch auf Tastendruck, ein weltmusikalisches Panoptikum mit jedem Zug oder Druck des Balgs. Höhepunkt dabei ist die „Oriental Rhapsody“. Der zauberhafte orientalische Einschub, die symbiotisch agierenden Musiker der mitgebrachten Band – alles klingt wie aus einem Guss. Die Soli der klassischen Gitarre, deren hinreißender Dialog mit dem Cello, die magischen Klänge der shakuhachi-artigen Flöte und das ausgesprochen subtile Zusammenspiel mit dem Orchester begeistern. Das Akkordeon flirrt, jubiliert, atmet, jongliert bislang ungehörte Töne.

Die Georgier im Freddy- Mercury-Rausch, „We Will Rock You“ und „We Are The Champions” – wer wollte da widersprechen? Dazwischen Led Zeppelins göttliche Hymne „Stairway To Heaven“. Gaynullin zaubert sich spielend durch das Publikum. Stehende Ovationen.