Ingolstadt
Denken erlaubt

Das Ensemble des Stadttheaters Ingolstadt zeigt sich bei Brechts "Der gute Mensch von Sezuan" in Bestform

31.01.2016 | Stand 02.12.2020, 20:15 Uhr

Kapitalistisches Glück im Kiosk von Shen Te: Szene aus "Der gute Mensch von Sezuan" am Stadttheater Ingolstadt. - Foto: Klenk

Ingolstadt (DK) Die Götter brauchen nur einen. Einen einzigen guten Menschen, den man bestenfalls medial als Erfolgsgeschichte vermarkten kann. Seht her: Das System funktioniert doch, und wo es scheitert, ist der Mensch schuld. Doch der einzige gute Mensch von Sezuan geht vor die Hunde. Die Götter sind korrumpiert, das System ist brutal und unentrinnbar, es macht die Menschen zum Kollateralschaden. Mitten in dieser Welt ist nur eines gut: die Inszenierung von Donald Berkenhoff, der im Stadttheater Ingolstadt mit seinem Ensemble zeigt, wie Brecht heute auf der Bühne überzeugend gespielt werden kann.

Jene Götter also hoffen, in der Prostituierten Shen Te den guten Menschen gefunden zu haben. Nur sie war bereit, die in der Ingolstädter Version extrem abgehalfterten Götter zu beherbergen, zur Belohnung geben sie ihr so viel Geld, dass sie sich ein Geschäft kaufen kann. Doch in kürzester Zeit wird sie von Hilfsbedürftigen, Gaunern und Schnorrern so belagert, dass sie dank ihrer Hilfsbereitschaft und Gutgläubigkeit den Laden wieder zu verlieren droht.

Aus dieser Bedrängnis gibt es nur einen Ausweg: Sie verwandelt sich in ihren eigenen Vetter, der als Mann ausreichend rücksichtlos und hartherzig sein kann. Als am Ende Shen Te für immer in die Rolle des Vetters schlüpft, wird sie Herrin - oder Herr? - über eine Vielzahl unlauterer und prekärer Arbeitsplätze.

Brechts Ende der 1930er Jahre verfasste Parabel kommt nicht subtil daher. Mit dem Bulldozer fegt die Dystopie über die Bühne. Wie die Apokalypse auf den Kino-Leinwänden als verkohlte Landschaft mit vereinzelten Baumstümpfen erscheint, malt Brecht seine Gesellschaftskritik als Landschaft stumpfer, gequälter Seelen. Nur soll der Zuschauer es nicht fühlen, verstehen soll er es - so geht episches Theater. Deshalb basiert das Stück auf Überzeichnung, Unterbrechung, Komik, Belehrung und Konfrontation. Für alle diese Ideen hinter der Verfremdung hat Berkenhoff sich etwas Eigenes einfallen lassen. Er hat das Stück genommen, seine modrigen Winkel abgestaubt, in der erheblich gekürzten Bühnenversion gerade so viele aktuelle Anspielungen untergebracht, dass einem die Laune nicht von Zeitgeist-Anbiederung verdorben wird, und mit einem versierten Händchen für Dramaturgie einen sehr gelungenen Rhythmus für den ganzen Abend gefunden, der im Wechsel der vielen Szenen, der Musik und des großen namenlosen und immer bestens choreografierten Personaltableaus nie aus dem Takt kommt. Das gilt auch für den Stimmungsaufbau, der den Zuschauer nach dem eher komödiantischen Anfang mehr und mehr am Schlafittchen - sprich der eigenen Lebens- und Denkungsart - packt.

Inmitten des Trubels wird das Publikum explizit konfrontiert: Wir sind schlecht. Wir sind hilflos. Wir schweigen. "Den Mitmenschen zu treten, ist das nicht anstrengend" Wo es doch so einfach wäre, freundlich zu sein.

Das über 20 Schauspieler fassende Arrangement kann nur so überzeugend funktionieren, weil das Ensemble des Stadttheaters bis in die kleinsten, fast farblosen Rollen hinein absolut präzise spielt. Sandra Schreiber erweist sich als Idealbesetzung in der Rolle der Shen Te. Erst naives Girlie, zeigt sie im Wechsel zum männlichen Alter Ego in Gestalt des Vetters die hohe Kunst des Spiels im Spiel; ist so viel gespielter Mann und echte Frau auf einmal, dass es ein wahres Vergnügen ist. Marc Schöttner, der sich in Gestalt des Fliegers Yang Sun vom erschöpften Beinahe-Selbstmörder zum skrupellosen Egoisten wandelt, kann dabei ebenso mithalten wie Peter Greif, Jan Gebauer und Sascha Römisch als komödiantisches göttliches Trio von der traurigen Gestalt.

Zum Erfolg tragen an diesem Abend aber nicht nur die Schauspieler bei: Großen Anteil hat die Musik von Paul Dessau, gespielt von einer vierköpfigen Band mit dem musikalischen Leiter des Abends, Matthias Flake, am Keybord, ebenso wie die auf einen Schnurvorhang (Ausstattung Nikolaus Porz) projizierten Bilder von Stefano di Buduo, die den Assoziationsraum des Stücks weiter vergrößern. Überhaupt offeriert die Inszenierung an vielen Stellen die Möglichkeit, das Thema des Abends weiterzudenken. Mit Querverweisen auf aktuelle Twitter-Hashtags; mit Bildern von asiatischen Prostituierten; mit Frauengestalten, die nur mit Krücken und Schienen laufen können; mit dem langen Starren ins schweigende und sprachlose Publikum. Ein Abend, der diejenigen denken lässt, die das möchten, die anderen aber nicht zum Denken zwingt. Das ergibt eine Rezeptur, die das Publikum mit viel Beifall quittierte. Es schaltet bestimmt beim nächsten Mal wieder ein, wenn es heißt: Deutschland sucht den guten Mensch von Sezuan.