Den Kuss muss man sich halt denken

Am Münchner Gärtnerplatztheater wird ab dem heutigen Montag wieder gespielt - mit kurzen Programmen und vor minimalem Publikum

14.06.2020 | Stand 02.12.2020, 11:10 Uhr
Kleine Insel der Hoffnung: Ekaterina Tarnopolskaja, Gyula Rab und Jennifer O'Loughlin im Gärtnerplatztheater. −Foto: Briane

München - Sie ist einfach nicht zu ersetzen, diese zarte Anspannung, wenn der opulente Kronleuchter nach oben fährt.

 

Dann dauert es nurmehr Sekunden, bis man den ersten Ton vernimmt. Das vermag kein Stream und auch kein MP3-Player zu vermitteln. Knöpfe und Regler sind halt kalte Technik, wenn man drückt, geht's sofort los. Und dass man gerade mal zu viert in der Mittelloge sitzt, hat schon auch seinen Reiz. "Einmal König sein! " lautet das Programm, mit dem am Münchner Gärtnerplatztheater der Spielbetrieb wieder aufgenommen wird.

Sachte natürlich. Eine Handvoll Zuschauer darf sich ab dem heutigen Montag in den wenigen Logen verteilen, und die Theaterleute sind definitiv in der Überzahl. Wobei sich Ludwig II. , auf den mit dem Titel angespielt wird, solo dem Genuss hingegeben hätte. Der Wagner-manische Bayernkönig war geradezu phobisch auf Absonderung bedacht und damit nichtsahnend ein Vorreiter virusbedingter Abstandsregeln.
Die werden auch auf der kulissenlosen Bühne eingehalten. Selbst wenn viel vom Küssen die Rede ist und sich Mária Céleng und Matija Meic beim "No, più non m'ami" aus Ruggero Leoncavallos "I Pagliacci" irgendwann in die Arme fallen sollten. Das Fachpersonal hat andere Mittel, schmachtet mimisch und gestisch - und bewegt die Leidenschaft ansonsten im Herzen und auf den Stimmbändern. Richtige Opernatmosphäre kommt da nur in Maßen auf, auch wenn sich die umwerfende Jennifer O'Loughlin als Violetta und ihr Alfredo (Gyula Rab) in Giuseppe Verdis "Traviata" noch einmal auf eine kleine Insel der Hoffnung singen ("Parigi, o cara").

Aber so könnte es gerne weitergehen. Diese Häppchen machen ja trotzdem Appetit, gerade wenn Unverwüstliches aus der Operette oder Opernschlager wie Giacomo Puccinis "O mio babbino caro" die Leere des Raums füllen. Und Jennifer O'Loughlin muss dafür nicht einmal die Honigreserven bemühen, um ihre Töne anrührend und samtig über ein Parkett ohne Publikum schimmern zu lassen. Wobei das Komödiantische am besten funktioniert. "Fünftausend Taler" sind ja auch zu verlockend, zumindest wenn Christoph Seidl schön selbstironisch seinen Bass wummern lässt und als Schulmeister Baculus in Albert Lortzings "Wildschütz" sein Gretchen verhökert.

Bei diesem ersten aus einer Reihe vielfältiger Menüs, die Gärtnerplatz-Intendant Josef E. Köpplinger und sein Team ausgetüftelt haben, kommt es auf jeden einzelnen Gang an, wie beim Liederabend oder im Kammerkonzert. Abtauchen im Ensemble gibt's nicht, Rückhalt bietet nur die Minimalversion eines Orchesters, der Flügel. Insofern lernen schnelle Gärtnerplatz-Gänger ihre Künstler ganz besonders gut kennen, das heißt, diejenigen, die Karten für die bereits ausverkaufte königliche Logenvorstellung ergattert haben. Und am Theater kann man behutsam ausprobieren, was geht. Denn bei aller Absurdität einer solchen Veranstaltung sind jetzt Experimente gefragt. Wer kann sich solche schon leisten, wenn nicht die staatlichen Häuser.

DK