Ingolstadt
Dein Nachbar, das unbekannte Wesen

Warum das Miteinander in einer großen Wohnanlage manchmal lustig, aber oft auch sehr anstrengend sein kann

07.03.2016 | Stand 02.12.2020, 20:07 Uhr

Kunst, die Spaß macht: Die Kindermalgruppe aus dem Wohnquartier des Gundekarwerks lässt sich vom DK-Fotografen bei ihrer kreativen Arbeit nicht stören. - Fotos: Hauser

Ingolstadt (DK) In seinem Theaterstück "Geschlossene Gesellschaft" beschreibt der französische Philosoph Jean Paul Sartre eine trostlose Unterwelt mit Menschen, die auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind, miteinander leben müssen, ob sie wollen oder nicht. Ein Satz fasst die Aussage zusammen: "Die Hölle, das sind die anderen."

Der "andere" als Mitbewohner, Nachbar und potenzieller Störenfried schränkt zwangsläufig durch seine bloße Existenz die eigene Freiheit ein. Und wer sich nicht als Multimillionär seine eigene Insel als Wohnsitz leisten kann, muss sich im Alltag mit seinen Mitmenschen irgendwie arrangieren. Man darf davon ausgehen, dass gerade das kirchliche St.-Gundekar-Werk, das der Diözese Eichstätt gehört, nicht im Sinn hat, seinen Mietern in den Ingolstädter Sozialwohnungen die Hölle zu bereiten.

Davon scheint aber nicht jeder überzeugt zu sein. Als sich vor einigen Wochen eine 78 Jahre alte Dame beim DONAUKURIER meldete, hatte sie eine Liste von Beschwerden im Gepäck, die sie im Lauf der Jahre gesammelt hatte. Alle ihre Klagen sind in Briefen ans Gundekarwerk dokumentiert, die sie dem DK zur Verfügung stellte.

"Mir hat es eigentlich gefallen in der Wohnung", erzählt die Frau dem Besucher von der Zeitung. "Ich fand's ideal." 2009 ist die Mutter zweier Kinder, die von ihrem Mann getrennt lebt, in die seniorengerechte Wohnanlage zwischen Albertus-Magnus- und Adam-Smith-Straße eingezogen. "54 Quadratmeter Wohnraum im zweiten Stock, niemand über mir, dazu ein Balkon, für mich allein genügt das." Offenbar ein Haus zum Wohlfühlen, noch dazu entworfen von Stararchitekt Günter Behnisch. "Zu beiden Seiten war es damals noch unbebaut", erinnert sich die alte Dame, "ich hatte freien Blick bis rüber zum Klinikum."

Das Unheil, so empfindet sie es aus heutiger Sicht, begann mit dem großen Neubauprojekt des Gundekarwerks, das ihr viele neue Nachbarn bescherte. "Seitdem hat es sich hier massiv verändert." Und die Mieterin begann, bei ihrer Wohnungsgesellschaft immer wieder Klage zu führen. "Im Sommer können Sie bei dem Geschrei den Balkon nicht mehr benutzen." Der Spielplatz unter ihrem Balkon sei zum Hundeklo verkommen. "Da kommen fremde Leute von überall her." Die Müllbehälter seien nicht abschließbar. "Jeder, der vorbeikommt, wirft was rein." Die Grünfläche auf der Westseite ihres Hauses sei ein großes Ärgernis. "Was mich stört, ist der Durchgangsverkehr auf diesem Platz mit Fahrrädern und Mopeds." Der Schlusssatz in ihrem letzten Beschwerdebrief an das Gundekarwerk lautet: "Ich kämpfe jetzt für mich allein. Andere Bewohner ärgern sich, sagen aber nichts."

Kämpferisch wirkt die Frau mit ihren 78 Jahren und den kurz geschnittenen grauen Haaren durchaus. So lässt sie sich auch vom DK-Fotografen auf ihrem Balkon porträtieren, den Blick streng auf den Kinderspielplatz gerichtet. Einige Tage später teilt sie dem Interviewer aber in einem äußerst akkurat verfassten Brief mit, dass sie doch lieber nicht mit Foto und Namen in der Zeitung erscheinen möchte.

Werner Rieder ist Prokurist und Leiter des Rechnungswesens beim Gundekarwerk. "Kinder machen nun mal Lärm", ist seine Erfahrung, "die älteren Leute wollen gern ihre Ruhe haben." Die Senioren seien zuerst hier gewesen, danach kamen die Familien. "Wenn jemand gewohnt ist, im Einfamilienhaus am Waldrand zu leben, hat er hier schon gewisse Schwierigkeiten." In diesem Quartier könne man sich "nicht so abschotten", zumal man es bei der Planung ganz bewusst auf Offenheit angelegt habe.

"Da kann es", sagt der Wohnungsmanager, "auch die eine oder andere Reiberei geben, das kennen wir." Das Gundekarwerk habe versucht, nicht nur von der Art und Größe der Wohnungen her "eine gute Durchmischung hinzukriegen". Der Anteil an Migranten in den Neubauten sei sehr hoch, speziell von Russlanddeutschen. "Die haben zum Teil andere Vorstellungen, aber die sollen nicht ausufern." Alles in allem ist Rieder überzeugt, "dass wir für Ingolstadt was Ordentliches zustande gebracht haben". Das Gebiet Hollerstauden habe ja nicht den besten Ruf gehabt. "Wir wollten dazu beitragen, den Stadtteil aufzuwerten."

Zusammenleben "in Gemeinschaft auf Distanz" - so formuliert die Architekturjournalistin Insa Lüdtke die Aufgabe, die sich den Planern heute zunehmend stellt. Dabei gehe es weniger um das "Konzept einer klassischen Wohngemeinschaft mit Putzplan", eher um "gemeinschaftliches Wohnen mit Rückzugsmöglichkeiten". Die Alterung der Gesellschaft und der Zerfall klassischer Familienstrukturen würden die Idee des Mehrgenerationenhauses weiter befördern.

Dass die Sache mit dem friedlichen Zusammenleben der Generationen nicht auf Anhieb funktionieren muss, war für Gundekar-Prokurist Rieder klar. Deshalb hat die Gesellschaft vom Start weg den Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) eingeschaltet - sozusagen als Schmiermittel, wenn es mal knirschen sollte. Der SkF ist mit einem Büro fünf Tage die Woche im Mehrgenerationenhaus vertreten. "Die sind permanenter Ansprechpartner für die Mieter", sagt Rieder, "das haben wir sonst nirgends." Die Betreuung wurde erst kürzlich bis 2020 verlängert.

Sogar die kritische Seniorin, von der schon die Rede war, bescheinigt der Sozialpädagogin Monika Fochler, dass sie "unheimlich" viel unternehme, damit die Bewohner in Kontakt miteinander kommen. "Das ist wirklich eine segensreiche Einrichtung", findet sie, "ich bin selber schon oft hingegangen."

Das Vertrauen, weiß Fochler, "wächst bei den Älteren erst langsam". Spielende Kinder in der Nachbarschaft gehörten in diesem Quartier eben dazu. "Natürlich nutzen auch andere die Spielanlagen, aber es wäre ja traurig, wenn es anders wäre." Die Offenheit sei Teil des Plans. Oder mit den Worten Fochlers: "Die Durchwegung ist beabsichtigt." Die Generationen zusammenzuführen, das sei Sinn und Zweck dieses Wohnprojekts, meint SkF-Geschäftsführerin Anne Stahl.

Sie kennt ganz andere soziale Brennpunkte in der Stadt. "Richtig passiert ist hier eigentlich noch nichts." Was mögliche Konflikte betrifft, sei das "weit ab von dem, was früher im Piusviertel war", berichtet Stahl. Einmal hätten Jugendliche hier in der Tiefgarage über die Stränge geschlagen. Nach etlichen Beschwerden habe man sich mit allen Beteiligten zu einem Gespräch getroffen.

Leute, die sich treffen und gemeinsam etwas machen - das ist Monika Fochlers Rezept für ein konfliktfreies Miteinander. Da gibt es Kinderbastelkurse und Yoga in russischer Sprache, eine Lerngruppe Quali und Beckenbodentraining, Weihnachtsfeiern und Halloweenpartys. Immer am Donnerstag ist besonders viel los. Im Gruppenraum tobt ein buntes Durcheinander von kleinen Kindern, die am Boden herumkrabbeln, und Eltern, die basteln oder sich unterhalten. Swetlana Jose sitzt mit anderen Müttern am Tisch und schaut zu, lässt sich von den krähenden Buben und Mädchen nicht aus der Ruhe bringen. Sie wohnt seit zwei Jahren mit ihrem Mann Anatoli und Tochter Milana hier. "Ich war schwanger, als wir eingezogen sind."

Swetlana freut sich darüber, dass über die Hälfte der Mieter junge Familien mit Kindern sind. Sie gilt im Quartierstreff als die fleißigste und eifrigste Näherin und Bastlerin. Drüben im Atriumhaus blickt derweil Eugenia März zufrieden von der Galerie nach unten. Dies sei, so schwärmt die Mutter zweier Kinder, "für Familien der perfekte Ort". Manche Gäste, die hier zu Besuch seien, möchten am liebsten gleich einziehen.

So gesehen müssen die "anderen", von denen Jean Paul Sartre schreibt, nicht immer die "Hölle" bedeuten. Es gibt offenbar auch Fälle, in denen die anderen ein großes Glück sind.