Ingolstadt
Das Wüten der Welt

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10.04.2022 | Stand 23.09.2023, 0:40 Uhr
Kunstvoll verwobene Realitäts- und Traumebenen, darin bewegen sich auch Alessia Ruffolo, Jan Gebauer, Peter Reisser (von links). −Foto: Klenk

Alexander Nerlich bringt "Tyll" in einer umjubelten Premiere auf die Bühne des Kleinen Hauses in Ingolstadt.

Der Schacht ist eingestürzt. Mit der Dunkelheit wächst die Angst. Oben lauern die Schweden. Unten der Tod. "Ich bin noch nie gestorben", sagt Tyll. Es klingt verwundert, fast belustigt. All die Jahre, die er das Land durchstreift hat, Krieg, Pest, Inquisition, menschliche Boshaftigkeit und Grausamkeit stets vor Augen, war er dem Tod mit Luftsprüngen davongeeilt. Und das sollte das Ende sein? Eine neue Explosion. Die Kameraden sind tot. Aber Tyll richtet sich auf. Trotzig. Erfindet sich neu. Wieder einmal. "Ich sterbe hier nicht. Ich sterbe nicht heute. Ich sterbe nicht! "

Das Bühnenlicht erlischt und Beifall brandet auf. Beifall, der kein Ende nehmen will. Beifall für einen wundersamen, berückenden Abend! Beifall für ein sensationelles Ensemble. Mehrfach hatte "Tyll" coronabedingt verschoben werden müssen. Am Samstagabend konnte im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt endlich Premiere gefeiert werden.

Regisseur Alexander Nerlich rückt Daniel Kehlmanns barockes Welttheater als apokalyptisches Schelmenstück nahe an unsere Gegenwart. Denn wer denkt bei diesem Eingangsbild nicht sofort an das Kriegsgeschehen in der Ukraine? Eine Art Krankenhaus haben Stella Lennert und Wolfgang Menardi in den Bühnenraum gebaut. Bis zur Decke weiß gekachelt. Antiquierte Apparaturen. Herausgerissene Kabel. Irgendetwas hat ein Loch in den Boden gesprengt. Man sieht schwefelgelbes Sediment unter den Bruchstücken des Fußbodens. Darauf eine schwarze Schicht aus Asche. In der Mitte des Kraters reglose Körper. Dieser Boden hat es in sich. Denn er verschluckt Menschen. Saugt sie ein. Lässt sie verschwinden. Gibt sie an anderer Stelle preis. Wie moderne Schlachtfeldarchäologen wühlen wir in der Geschichte. Und weil der Dreißigjährige Krieg einer der brutalsten und blutigsten Kriege in Europa war, erzählt das, was dabei zutage gefördert wird, vielstimmig von bestürzenden Menschheitskatastrophen.

Daniel Kehlmann hat in seinem 2017 erschienenen Roman "Tyll" den Gaukler Tyll Ulenspiegel vom 14. ins 17. Jahrhundert versetzt. In den Wirren des Dreißigjährigen Krieges trifft er auf machtlose Könige und religiöse Fanatiker, auf Dichter und Drachenforscher, erleidet Hunger, Armut und Gewalt, verliert Eltern und Heimat. Tötet. Überlebt. Und erfindet sich immer wieder neu.

Folgerichtig lässt Regisseur Alexander Nerlich diesen Tyll von verschiedenen Darstellern spielen, die nicht nur - wie der Roman - in der Zeit springen, also unterschiedlich alt sind, sondern auch unterschiedliche Facetten dieses Sagenhelden aufweisen. Am fragilsten, versponnensten ist er in der kindlichen Version von Alessia Ruffolo. Sie zeigt, wie merkwürdig und zart dieser Tyll ist. Wie er das Wesen der Dinge erkunden will. Wie das Brausen der Welt in seinem Kopf in Echos nachhallt. Ein Bruder des Simplicissimus, bei dem Zwanghaftigkeit und Gewalt bisweilen eine gefährliche Allianz eingehen.

Filigran modelliert Alessia Ruffolo ihren Tyll. Und wenn sie das Seiltanzen übt, wo sie auf dem Rücken der anderen Schauspieler durch die Luft schreitet, oder an anderer Stelle fast ertrinkt, dann sind das betörende, raffiniert choreografierte Bilder (Zoe Gyssler).

Der Tyll von Ingrid Cannonier dagegen ist abgeklärt, ein lauter, derber Spaßvogel, so wie wir ihn vielleicht am ehesten mit dem literarischen Eulenspiegel verbinden. Péter Polgárs Tyll ist kraftvoll, arglistig und dämonisch, ein Manipulator. Peter Rahmanis Tyll ist ein Provokateur, der Spaß an der Eskalation hat. Peter Reisser zeigt ihn als Überlebenskünstler. Und Jan Gebauers grotesker, versehrter Tyll ist deshalb so spannend, weil er dem labilen Erwachsenen Züge des Vaters (er spielt auch den Müller, dem wegen Ketzerei der Prozess gemacht wird) gibt. Und damit auch die Frage aufwirft, wie wir zu dem werden, was wir sind.

Immer an Tylls Seite: Nele, die Bäckerstochter, die mit ihm abhaut. In die Freiheit des fahrenden Volkes, die in diesem durch Religionskriege verheerten Land mit großen Gefahren verbunden ist. Mira Fajfer verkörpert diese Nele. Eine Kämpfernatur. Vielschichtig. Mit großer Zärtlichkeit.

Doch das siebenköpfige Ensemble ist permanent gefordert. Schließlich verfügt "Tyll" über ein riesiges Personal. Auch wenn Regisseur Nerlich Kehlmanns 475-Seiten-Roman klug konzentriert hat, bleiben wahnwitzig viele Rolle und Erzählstimmen. Einige wenige bekommen Konturen - die Winterkönigin, Athanasius Kircher, Universalgelehrter, Ankläger und Erfinder des Katzenklaviers, der Schriftsteller Adam Olearius, Pirmin, der Gaukler, Tylls Eltern -, viele bleiben Schemen. "Da ist ein Fleck, wie Menschen ohne Gesicht. Wie Schatten", beschreibt Tyll an einer Stelle seine Kopfgeburten.

Und so bringt Kostümbildnerin Zana Bosnjak sie auch auf die Bühne: Schwarze gesichtslose Wesen aus dem Albtraum-Universum eines Hieronymus Bosch. Sie tauchen auf und verschwinden im Schwarz der Bühne. Bauern, Soldaten, Menschen, Trugbilder.

Mit großer Präzision und ohne Scheu vor Komik sind diese Wechsel inszeniert, werden Realitäts- und Traumebenen gemischt. Der Chor tritt mit archaischer Wucht auf. Nie stockt das Erzählen. Auch wenn munter fabuliert wird, werden die Figuren doch nie mit Text überladen. Stets überraschend knüpft ein neuer Tyll den Handlungsfaden fort. Und all das stemmt das kleine Ensemble hoch konzentriert, spielfreudig, virtuos.

Malte Preuß steuert zu den atmosphärisch dichten Bildern von unbehausten Menschen einen beklemmenden Soundtrack bei: dunkles Raunen, Messer, die die Nacht durchschneiden, Krähenrufe, Kriegsgewitter, dumpfe Unterwasserklagen, bedrohlich Wummerndes. Musik, Tempo, Rhythmus, Bildsprache, Spiel: All das ist kunstvoll miteinander verwoben - und macht den Abend zu einem Ereignis.

Regisseur Alexander Nerlich erzählt vom Grauen des Krieges, von Verrohung und Dummheit, von Gewalt, die Gewalt gebiert, aber auch vom Umbruch, wenn das Mittelalter auf die Neuzeit trifft, von Freigeistern und Traumtänzern. Tyll ist einer von ihnen. Und beschert dem Publikum in seiner Rätselhaftigkeit einen grandiosen Abend. 140 Minuten Herzschlagtheater!

DK


ZUR PRODUKTION

Theater:

Kleines Haus,

Stadttheater Ingolstadt

Regie:

Alexander Nerlich

Bühne:

Stella Lennert,

Wolfgang Menardi

Kostüme:

Zana Bosnjak

Nächste Vorstellungen:

11., 13., 14., 16., 18. April

Kartentelefon:

(0841) 30547-200

Anja Witzke