Pfaffenhofen
Das Schützenscheiben-Geheimnis

Alle schweigen - aber wer bemalt eigentlich die Scheiben für die 64 Vereine im Landkreis?

25.11.2019 | Stand 25.10.2023, 10:27 Uhr
Malt nur noch, "wenn ich Lust und Laune habe": Karl Rabenseifner in seinem Pörnbacher Atelier. −Foto: Herchenbach

Pfaffenhofen (PK) Es ist ganz offensichtlich ein Geheimnis, über das Eingeweihte zwischen Hohenwart und Wolnzach, Vohburg und Jetzendorf nur raunend sprechen, obwohl die Sache eher unspektakulär scheint. Nämlich: Die Schützensaison hat begonnen, die ersten Scheiben sind schon ausgeschossen worden - aber wer bemalt die eigentlich?

 


Wer den Hintergrund kennt, weiß, dass die Frage nicht so banal ist, wie sie klingt. Denn in Pfaffenhofen gibt es sieben Schützenvereine, im gesamten Landkreis 64 ("ohne Anspruch auf Vollständigkeit", heißt es bei der Stadtverwaltung). Jeder dieser Vereine braucht pro Saison mindestens drei Scheiben: eine Anfangsscheibe, um die zur Eröffnung geschossen wird, eine Königsscheibe und eine Endscheibe zum Saisonausklang. Sind schon an die 200 Stück. "Aber das reicht ja nicht", sagt Erwin Strasser, seit 17 Jahren Schützenmeister des SV Alt-Hög. Denn hinzu kämen ja Hochzeitsscheiben, Kindstaufscheiben, Geburtstagsscheiben, Bürgermeisterscheiben und so weiter. Macht geschätzte 600, 700 Scheiben.

Das Problem: Wer schießt, hätte gern eine Trophäe. Der Jäger nimmt nach erfolgreicher Pirsch einen Hasen mit nach Hause, der siegreiche Vereinsschütze eine Holzscheibe, die früher mit Hirsch, Auerhahn, Gams oder Keiler vor malerischer Bergkulisse kunstvoll bemalt war - Motive, die heute ziemlich out sind. Jeder Verein hatte jemanden in seinen Reihen, der ganz gut malen konnte. Ist lange her.

 

Die letzten dieser Zunft sind Helmuth Hammerl aus Reichertshofen und Karl Rabenseifner aus Pörnbach. Die beiden gehen sehr vital mit strammen Schritten auf die 80 zu. Hammerl ist Ehrensektionsschützenmeister und scheidet in diesem Jahr als Scheibenmaler aus: Wie viele er in seinem Leben verziert hat, weiß er nicht. Vermutlich gibt es aber keinen Verein, bei dem nicht eine seiner Scheiben hängt. Er malt gerade, sagt er, an seiner definitiv letzten Scheibe, und das ist wohl auch der Grund, warum er nicht möchte, dass ihn dabei ein Fotograf beobachtet. Könnte ja sein, dass dann jemand auf die Idee kommt und nachfragt, ob er nicht doch noch, nur ein letztes Mal...

Seit 2010 bemalt Hammerl für Pfaffenhofens Bürgermeister Thomas Herker Scheiben. Natürlich mit Stadtansichten. Im vergangenen Jahr, erinnert sich Hammerl, wünschte sich der Stifter als Motiv den Hauptplatz, komplett ohne Verkehr und menschenbefreit. Das erschien im Nachhinein wohl auch dem leidenschaftlich verkehrsberuhigenden Stadtoberhaupt etwas zu öde. In diesem Jahr malt Hammerl Fußgänger und Radfahrer zwischen die Architektur. Sein letztes Werk. "Irgendwann ist gut", sagt Hammerl.

Bleibt Karl Rabenseifner. Aber der nimmt keine Aufträge entgegen, sondern malt, "wenn ich Lust und Laune dazu habe". Im Keller seines Hauses steht auf einer Staffelei eine Scheibe mit dem Halbprofil einer unbekannten Dame, kunstvoll in Braun- und Ockertönen gehalten. "Damenscheibe" steht dazu in Barocklettern. Mal schauen, ob er das Werk irgendwann stiftet. An der Wand hängt eine monumentale Tafel, die noch unvollendet ist. Eine Überraschung für seinen Verein Freischütz Pörnbach soll das werden, und deshalb werden Details hier nicht verraten. Seit 70 Jahren ist Rabenseifner aktiver Schütze, als Achtjähriger trat er Jung-Roland Aufham bei, immer noch hängt im Landgasthof Weiß eine Schützenscheibe von ihm.

Womit die Frage immer noch nicht beantwortet ist: Woher bekommen die Vereine ihre Scheiben? Markus Hammerschmid, Vorsitzender des SV Tegernbach 64, verrät: "Wir lassen bei Weiß anfertigen." Genauso wie Franz Plöckl, Schützenmeister der Lindacher Bergschützen. Nachfrage bei Schützenbedarf Weiß in Autenzell: "Wer malt für Sie die Scheiben?" Betriebsgeheimnis, sagt Anton Weiß. Jedenfalls niemand aus dem Landkreis. Zu ihm kommen die Schützenoberen entweder mit konkreten Vorstellungen und Fotografien, oder er legt ihnen Motive vor, die er dann der Künstlerin, die für ihn arbeitet, in Auftrag gibt.

Ebenfalls nicht aus dem Landkreis kommt die Künstlerin, die für den SV Alt-Hög malt. Schon auf Jahre im Voraus haben bei ihr die Schützen ihre drei Saisonscheiben vorbestellt. Und deshalb könnte Erwin Strasser entspannt ihren Wohnort preisgeben, aber lieber wäre es ihm, wenn der nicht in der Zeitung steht.

Auch Ernst Schmid, der mit seiner Frau ein Geschäft für Vereinsbedarf an der Hohenwarter Straße in Pfaffenhofen betreibt, verrät seine Quelle nicht. Im Laden hat er ein paar Scheiben als Anschauungsmaterial hängen, gekreuzte Gewehre, Gänse am Brunnen, eine majestätische Krone. Ansonsten aber legt er den Kunden, wenn die denn nicht mit eigenen Vorschlägen kommen, Kataloge mit 300, 400 Motiven vor, die dann eine Künstlerin aus einem Balkanstaat fotorealistisch umsetzt. Rund 150 Euro kostet eine 50 Zentimeter große Scheibe; detailgetreue Gesichter kosten einen minimalen Aufpreis. Einmal habe die Künstlerin den Schäfflertanz vor dem Rathaus gemalt, alle 47 Tänzer seien identifizierbar gewesen. In seinem Privathaus hütet Schmid einen Schatz: Er besitzt die einzige Schützenscheibe, die der Pfaffenhofener Kunstmaler Michael Weingartner jemals gestaltet hat. Gestiftet hatte sie der Freund von Schmids Vater, Hanns Niedermayr, dem das Hotel Bortenschlager am Hauptplatz gehörte. Das stand an der Stelle, wo heute der Müller-Drogeriemarkt seinen Platz hat. Anlass für die Scheibe war das Jubiläumsschießen 1973 zum 100. Bestehen eines längst aufgelösten Schützenvereins. Schmids Vater Ernst sicherte sich als bester Schütze die Scheibe, die einen bärtigen Schützen mit opulenter Königskette zeigt, dem eine blonde Kellnerin eine Maß andient. Hinter den Krügen ist das längst abgerissene Hotel zu erkennen.

Auch andere bayrische Künstler haben Schützenscheiben bemalt, etwa Franz Lenbach (ein springendes Pferd für die Schrobenhausener Feuerschützen) oder August Kaulbach (die Schützenliesl). Repliken gibt's schon für 50 Euro bei unzähligen Internet-Anbietern, bei denen sich Schützenvereine eindecken können. Als sexistisch gebrandmarkt würde heute ein Motiv aus dem 18. Jahrhundert mit einer nackten Venus auf einer Schaukel, die von zwei Putten an langen Bändern in Schwung gehalten wird. Aufschrift: "Auf meiner Scheiben schiessen gern/groß und klein fast alle Herrn." Lebenswichtige Teile sind von den Schüssen verschont geblieben, lediglich der rechte Oberarm weist zwei Löcher auf.

Natürlich wird heute nicht mehr auf diese kunstvollen Scheiben geschossen. Und deshalb kann Erwin Strasser stolz unversehrte Exponate präsentieren: Über 30 Stück hat der Verein im Gasthof Söltl neben der Kirche aufgehängt, auch einige ältere aus der Zeit der Vereins-Wiedergründung nach dem Krieg. Fast keine Wand im Gasthof ist ohne Schützenscheiben. Die aktuellen hängen überm Stammtisch und werden jährlich ausgetauscht, das heißt, die Schützen nehmen ihre Scheiben mit nach Hause. Und was meint die Wirtin zu dieser Deko? Inge, den Zapfhahn in der Hahn, schaut kurz hoch und sagt: "Passt scho!" Ihre Kollegin Verena Gschwendtner hatte da einen Vorteil: Als sie den Pfaffelbräu am Hauptplatz übernahm, hat sie sich im Keller aus dem Fundus der inzwischen aufgelösten Hubertusschützen, die hier ihr Vereinslokal hatten, die sieben schönsten Scheiben ausgesucht. Die Königsscheibe von 1982 ergänzt jetzt den Herrgottswinkel. Motiv: Ein Postillion weckt mit seinem Horn den schlafenden Wirt auf der Ofenbank. Der Maler? Unbekannt; aber er hat wohl einschlägige Erfahrungen der Schützen umgesetzt.
 

Albert Herchenbach