Hilpoltstein
"Das Schlimmste ist wegschaun"

Hilpoltsteiner Gymnasiasten verleihen Opfern der Naziherrschaft eine laute Stimme

26.01.2018 | Stand 02.12.2020, 16:54 Uhr
Eine ergreifende Erinnerung an die Nazizeit in Nürnberg gelingt Elisa Eitel, Daniel Kaloczi und Vincent Noel (von rechts) mit ihrem poetischen Referat: In der voll besetzten Aula kontrastieren sie Texte des damaligen Nürnberger Stadtschulrats mit der Biografie eines verfolgten jüdischen Schülers. −Foto: Kofer

Hilpoltstein (HK) Zum Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz beeindrucken Elisa Eitel und Daniel Kaloczi mit einem poetischen Referat, das die Ausgrenzung jüdischer Schüler in der Nazizeit spür- und erlebbar macht. Unterstützt werden sie am Freitag vom Nürnberger Schriftsteller Vincent E. Noel.

Durch die Aula donnert krachend die martialische Titelmusik der NS-Wochenschau, auf der Leinwand erscheint ein Foto von Fritz Fink, von 1935 bis 1945 in Nürnberg Gauamtsleiter für Erziehung und Stadtschulrat. Ein fanatischer Rassist und Freund des berüchtigten Gauleiters Julius Streicher. Noel zitiert schneidig aus Finks Schriften, Artikeln für das Hetzblatt "Der Stürmer" oder der 1937 verfassten Hasspredigt "Die Judenfrage im Unterricht". Fink verfolgt eine konsequente Umerziehung. "Was treiben die Juden?" Diese Frage müsse man den deutschen Kindern immer wieder stellen, fordert der Nazi. Sie seien keine Fabrikarbeiter oder Mauerer, sondern Ärzte und Rechtsanwälte. "Der Jude geht der harten Arbeit aus dem Weg", zitiert Noel den Stadtschulrat. Und das werde sich auch nie ändern, behauptet Fink, der bei seiner Begründung perfide auf eine Nürnberger Chronik aus dem Mittelalter zurückgreift, in der die christlichen Bürger versuchen, die Pogrome aus dem Jahr 1349 zu rechtfertigen. Wer also glaube, jüdische Bürger würden sich ändern, sich integrieren, der irre gewaltig, schließt er daraus und fordert: "Sorgen wir deutschen Erzieher dafür, dass dieser Wahnsinn nie mehr auftaucht."

Kontrastiert werden diese rassistischen Verleumdungen durch die Erinnerungen von Herbert Kolb, Jahrgang 1922, der damals als jüdisches Kind alle Stufen der Ausgrenzung und Verfolgung bis hin zum Abtransport ins Konzentrationslager nach Theresienstadt erlebte und sie in seiner Biografie eindrücklich schildert. Vor allem in diesen ruhigen Passagen herrscht absolute Stille in der voll besetzten Aula des Gymnasiums. Hermann Kolb, der damals mit seinen Eltern gegenüber der Knauerschule in Gostenhof wohnt, ist Lehrling im Bekleidungshaus seines Onkels - zwangsweise. Denn eine andere Ausbildung verweigert ihm die Deutsche Arbeitsfront, die Einheitsgewerkschaft der Nazis. "Einige waren nett, viele waren Nazis", schriebt Hermann Kolb über die Belegschaft. Aber als Neffe des Chefs habe er nichts zu befürchten gehabt.

"Sorgen wir deutschen Erzieher dafür, dass dieser Wahnsinn nie mehr auftaucht."

Fritz Fink,NS-Stadtschulrat

 

 

Das ändert sich bald. Schon am 1. April 1933, kurz nach Hitlers Machtergreifung, stehen Schläger der SA vor jüdischen Geschäften und pöbeln Kunden an, die hier einkaufen wollen. Die Rechnung für die "Wachposten" muss die jüdische Gemeinde bezahlen.

Im Lehrplan der Schule steht plötzlich "Rassenkunde" auf dem Stundenplan. Kolb schildert die erste Stunde, als ein junger Assessor ihn vor die Klasse auf ein Podest stellt und vermisst. Die Mitschüler hatten sich einen Spaß daraus gemacht, Hermann dafür vorzuschlagen. Der ahnungslose Lehrer kommt nach dem Studium von Nase, Kopf und Ohren zu dem Urteil: "ein ausgesprochen arischer Typ". Die Klasse lacht, der Gong beendet das "unwürdige Schauspiel", wie Kolb schreibt.

"Es gab zunehmend Probleme im Lyzeum", erinnert sich ein jüdisches Mädchen. Sie muss jetzt in der letzten Reihe sitzen, ihre Aufsätze werden nicht mehr vorgelesen, vom Lateinunterricht wird sie ausgeschlossen. Die Noten werden schlechter, weil angeblich nur deutsche Kinder zu wahrhaft Großem fähig wären. Mitschüler beschimpfen das Mädchen als "Judenstinker".

"Das war das Ende unseres Lebens in Nürnberg."

Hermann Kolb

 

Ab April 1941 dürfen jüdische Kinder keine Nürnberger Schule mehr besuchen. Sie werden meist zur Zwangsarbeit in die Rüstungsindustrie gesteckt. Hermann Kolb hat Glück, er findet arbeit in der Firma Popp, die noch 20 jüdische Mitarbeiter beschäftigt hat. Sie werden streng von den Arbeitsplätzen der "Arier" getrennt. In der Arbeit verliebt sich Hermann in ein jüdisches Mädchen namens Fanny, die aus Fürth kommt. Zeit, sich zu sehen, haben die beiden kaum, denn Fanny muss zu Fuß nach Hause laufen, die Straßenbahn ist für Juden verboten. Und um 20 Uhr ist Sperrstunde. Die Liebe endet schnell: Am 24. März 1942 wird Fanny nach Polen deportiert - niemand überlebt den Transport.

Seit September 1941 müssen alle Juden in Deutschland einen gelben Stern auf der Kleidung tragen. Endgültig sichtbares Zeichen der Ausgrenzung. Am 10. Juni 1943 kommen zwei Gestapo-Männer zum Morgengebet in die Behelfssynagoge in der Oberen Kanalstraße und verhaften Hermann Kolbs Vater Bernhard, den Vorsteher der jüdischen Gemeinde ist. Aus dem Gefängnis schmuggelt der Vater wenige Tage später die Botschaft: "Macht euch fertig. Packt ein, wir werden deportiert." Hermann, seine kleine Schwester Erna und die Mutter Reta glauben da noch an ein Arbeitslager irgendwo im Osten. Die beiden Männer der Gestapo, die schon den Vater verhaftet hatten, stehen am 17. Juni in der Wohnung und übernehmen die Hausschlüssel. Auf der Straße wartet ein fensterloser Möbelwagen. Hermann Kolb schreibt: "Das war das Ende unseres Lebens in Nürnberg." Der Transport geht ins tschechische Theresienstadt. "Der andere Transport ging direkt nach Auschwitz." Auf der Leinwand wechseln sich die Bilder ab: Stacheldraht, Gleise, Züge, Häftlinge, das KZ-Tor. Dazu läuft der Song von Bela B. "Deutsche kauft nicht bei den Nazis", der mit allen Verniedlichungen rechter Propaganda abrechnet.

"Es berührt einen sehr, weil man sich ja in die Personen hineinversetzt", sagt Elisa Eitel. Es falle aber leicht, sich in die Rolle zu versetzen, ergänzt Daniel Kaloczi, "vor allem, wenn man in die Gesichter des Publikums sieht". Da spiegelten sich Trauer und Betroffenheit. Das poetische Referat sei viel intensiver, als noch einmal im Unterricht eine Nazi-Rede zu analysieren. Sabine Kosider, Initiatorin des Projekts, das auf ein Buch des Nürnberger Stadtarchivars Gerhard Jochem aus dem Jahr 2016 zurückgeht, bedankt sich nach der intensiven Lesung bei den Vortragenden. "Ich bin dankbar als Lehrer, euch getroffen zu haben. Ihr seid toll", lobt sie die beiden aus dem Oberstufentheater. Den Schülern im Publikum wünscht sie, dass sie etwas mitnehmen. "Es lässt einen eigentlich sprachlos zurück", sagt Schulleiterin Anja Eichinger und findet dann doch noch die richtigen Worte: "Das Schlimmste, was wir tun können, ist wegschauen." Auch heute noch.