Eichstätt
Das Schlagwort "Demokratie" allein genügt nicht

Interview mit dem Eichstätter Politikwissenschaftler Bernhard Sutor zum heutigen "Tag des Grundgesetzes"

22.05.2016 | Stand 02.12.2020, 19:47 Uhr

"Grundgesetz 49" heißt die Installation, die Dani Karavan in den 1990er-Jahren nahe den Gebäuden des Bundestages in Berlin gestaltet hat. Zentrales Element dieser Arbeit: In eine etwa drei Meter hohe Glaswand zwischen Jakob-Kaiser-Haus und Spree gravierte er mit Laser die 19 Grundrechtsartikel des deutschen Grundgesetzes in ihrer Urfassung von 1949. Damit soll den hier vorbeigehenden Bürgerinnen und Bürgern die Basis der deutschen Verfassung, die Grundrechte, in transparenter Weise verdeutlicht werden. ‹ŒArch - foto: Chloupek

Eichstätt (EK) Seit genau 67 Jahren bildet das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland das Fundament der deutschen Demokratie. Der 23. Mai gilt bundesweit als "Tag des Grundgesetzes". Ein profunder Kenner der Materie ist der Eichstätter Politikwissenschaftler Bernhard Sutor.

Herr Sutor, was ist in Ihren Augen der wichtigste Artikel des Grundgesetzes?

Bernhard Sutor: Jeder, der so gefragt wird, wird natürlich sagen Artikel 1, Absatz 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt". Ich zögere allerdings, das so einfach stehen zu lassen.

 

Warum zögern Sie da?

Sutor: Natürlich ist das die Grundnorm. Unsere politische Ordnung bekennt sich hier zu einem Höchstwert, den sie nicht selbst setzt, sondern den sie vorfindet und gleichzeitig aber schützen soll. Und sie folgert daraus die Menschenrechte, die sie schützen muss. Deshalb genügt es nicht zu sagen, "das ist der wichtigste Artikel".

 

Was meinen Sie damit, wenn sie "vorfinden" sagen? Beziehen Sie sich damit auf christliche Werte? Hat das etwas mit Glaube und Religion zu tun?

Sutor: Natürlich. Die unterschiedlichen Weltanschauungen und religiösen Gemeinschaften begründen das verschieden. Diese Verschiedenheit wird auch nicht zu überbrücken sein. Aber alle gemeinsam bekennen sich zu diesem dem Staat vorgegebenen Wert, einschließlich der Menschenrechte.

 

Warum würde also Ihrer Meinung nach zu kurz greifen, Artikel 1, Absatz 1 als zentralen Satz zu betonen?

Sutor: Es geht darum, dass diese Werte - Würde und Menschenrechte - geschützt werden. Das geht nur mit einer funktionierenden politischen Ordnung. Und deshalb ist für mich der Artikel 20 ganz wichtig und unentbehrlich, in dem die Prinzipien dieser politischen Ordnung beschrieben werden; Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit, Bundesstaat, Gewaltenteilung, Föderalismus. Das ist ein spannungsgeladenes Gefüge von Prinzipien, die nicht alle in einer Linie liegen. Es genügt nicht, "Demokratie" zu sagen, wie es heute oft geschieht. Demokratie funktioniert überhaupt nur in einer solchen Verfassung mit den anderen Prinzipien zusammen und mit den Institutionen, die daraus folgen.

 

Um diese Werte und Prinzipien muss aber immer wieder neu gerungen werden.

Sutor: Ja, in der Auseinandersetzung mit den konkreten Problemen und Konflikten muss wirklich immer wieder neu um sie gerungen werden. Allerdings werden die Zusammenhänge und die verschiedenen Institutionen, die es braucht, heute oft gar nicht mehr verstanden. Das Repräsentationsprinzip, das Parteienprinzip oder dieses spannungshafte Gefüge von den Institutionen, die regieren. Die Kanzlerin bestimmt die Richtlinien der Politik. Aber das Kabinett entscheidet mit Mehrheit, da gibt es Meinungsverschiedenheiten. Und jeder Minister nimmt sein Ressort in eigener Verantwortung wahr. Wie das jetzt im Einzelnen zusammenpasst, das ist im Grundgesetz nicht beschrieben. Das ist die politische Auseinandersetzung.

 

Diese Auseinandersetzung muss aber immer auf einer gemeinsamen Basis stattfinden - eben dem Grundgesetz?

Sutor: Ja, man braucht eine solche politische Ordnung, damit Menschenwürde und Menschenrechte in den Konflikten beachtet und geschützt werden können.

 

Das ist dann wohl auch die Grundlage dafür, dass "Demokratie" eben nicht das bloße Bestimmen einer Mehrheit bedeutet. Hier geht es dann auch um den Minderheitenschutz.

Sutor: Richtig. Hier ist genau dieser Zusammenhang der Achtung des Schutzes von Würde und Menschenrecht. Man muss wissen, wie diese Grundnormen sich in einer politischen Ordnung auswirken. Das wird meines Erachtens zu wenig gesehen.

 

Inwieweit ist für Sie die Gewichtung der einzelnen Artikel verhandelbar? Es gibt ja Zeiten, in denen einzelne Artikel des Grundgesetzes mehr im Vordergrund stehen als andere, etwa aktuell in der Erdogan-Böhmermann-Debatte. Hier steht der Artikel 5, in dem die Meinungsfreiheit sowie die Freiheit von Presse und Kunst fixiert ist, im Fokus.

Sutor: Nicht verhandelbar sind meines Erachtens Artikel 1, Menschenwürde, und Artikel 20, die Prinzipien der Verfassung. Alles andere ist verhandelbar, was aber nicht heißt, dass man es einfach ignorieren oder wegschieben darf. Im Verhandeln muss man zwischen konkurrierenden Werten und Rechten gewichten. Die Meinungsfreiheit oder die Freiheit der Kunst können ja, wie wir gerade erleben, in Konflikt mit anderen Rechten betroffener Menschen geraten. Da muss abgewogen werden.

 

Also: "Demokratie" als "Meinung der Mehrheit", wie es heute von vielen empfunden wird, genügt nicht?

Sutor: Nein, das genügt nicht. Auch die Mehrheit ist gebunden an die Verfassung, an Grundrechte. Sie kann als Mehrheit ja nur in einem bestimmten Ordnungsgefüge festgestellt werden. Wir brauchen ein ordentliches Wahlrecht, wir brauchen die Umschreibung der Rechte des Bundestages, des Bundesrates. Ein Mehrheitsprinzip allein würde in der Luft hängen, wenn wir diese Institutionen nicht hätten.

 

Damit sind wir beim Themenfeld der politischen Bildung. Für eine funktionierende Demokratie brauchen wir Bürger, die wissen, wie sie mit ihren Rechten, Pflichten und mit ihrer Verantwortung umgehen. Wie erleben Sie die aktuelle Debatte zu diesem Thema?

Sutor: Was den Umgang der Menschen mit ihren Rechten und Pflichten betrifft, bin ich nicht einmal so pessimistisch. Ich glaube, jeder Mensch sieht ein, dass er, wenn er Rechte wahrnimmt, auch die Rechte anderer wahren muss. Und er sieht, wenn er nachdenkt, auch ein, dass er Pflichten in der Gesamtheit hat, wie Steuern zu zahlen und die Gesetze zu achten und dergleichen. Was mir mehr Sorge macht, ist, dass dieses Verständnis von Demokratie als einer komplizierten Ordnung von nötigen Prinzipien und Institutionen verloren gegangen ist. Es wird reduziert auf das Schlagwort "Demokratie" und damit auf "Mehrheit" und "Wir wollen bestimmen" und damit hat es sich. Nein, damit hat es sich eben nicht. Das wäre keine Demokratie.

 

Das Gespräch führte

Eva Chloupek