Das Schauspielhaus als Vorleseinstitut

07.11.2010 | Stand 03.12.2020, 3:29 Uhr

 

München (DK) Man scheint derzeit wieder gerne zu lesen als Theatermacher – und was im Regal an Klassikern aufzufinden ist, wandert dann umgehend, filtriert und mehr oder weniger originell aufbereitet, auf die Theaterbühne.

Eine Modeerscheinung, die in der Oper längst abflaut, aber im Schauspiel fröhlichste Buchorgien feiert und sich natürlich längst nicht nur auf Münchner Bühnen beschränkt. Doch an den Kammerspielen hatten tatsächlich von bisher sechs Premieren der Saison vier einen ursprünglich epischen Text zur Grundlage, wenn auch zugegebenermaßen die Aufbereitung recht unterschiedlich ausfiel. Somit stellt sich bei regelmäßigem Premierenbesuch unweigerlich eine Art Trennkost-Unbehagen ein, zumal es mit Koen Tachelet auch noch einen Hausautor für die Literaturprojekte und dadurch allzu offensichtliche stilistische Gemeinsamkeiten bei der Textbearbeitung gibt.

Die Novelle "Angst" von Stefan Zweig, ein psychologisierender Ehebruch-Albtraum, war am Samstag an der Reihe und war dem "Dramatisör" und seinem bereits weidlich bekannten Arsenal ausgeliefert: Textpassagen in erster und dritter Person stehen unverbunden dem Gespielten gegenüber, scheinbar willkürlich erfolgt die Aufteilung von langen Absätzen auf verschiedene Rollen, das Einfließen von entpersonalisierten Beobachtungen und Beschreibungen kleistert das Stückwerk zusammen.

Dazu kommen natürlich notwendige Kürzungen und Änderungen dort, wo dem Bearbeiter sonst ein Bezug auf die Gegenwart nicht mehr gelingt, und schließlich erlebt man Schauspieler im Ringkampf mit Dichterworten, die eben nicht für die Bühne gemeint waren.

Zweig dürfte im Literaturhimmel ordentlich mit den Augen rollen, hatte er doch neben dem heute noch wegweisenden Libretto zur Oper "Die schweigsame Frau" auch einen ganzen Stapel dramatischer Werke hinterlassen, die heute nicht mehr aufgeführt werden.

Man kann dem Abend aber nicht vorwerfen, dass er langweilig geraten wäre – die Tändelei der in der Windstille ihrer Ehe dümpelnden Irene, die der Aufdeckung ihrer von "innerer Bürgerlichkeit" gut durchorganisierten Affäre mit einem jungen Künstler zu entfliehen versucht, ist radikal und packend in Szene gesetzt. Regiestar Jossi Wieler versteht sein Handwerk. Schon die in Scherenschnitt-Ästhetik ausgeleuchtete Fuß-Choreografie zwischen Irene und ihrem Liebhaber, die das Publikum zu Beginn des Abends als ungebetener Beobachter miterlebt, hat Charme und Ausdruck wie gutes modernes Ballett.

Seine Schauspieler – allen voran die fantastisch spielende Elsie de Brauw als Irene, die allerdings dringend an ihrem Deutsch arbeiten muss – sind, wie an diesem Haus zu erwarten, erste Sahne. Auch der zunächst so gedrückt und farblos gezeichnete Ehemann André Jung wuchs kurzzeitig, dann aber höchst überzeugend zu dem seelenkranken Dämon und selbstherrlichen Berufskrüppel heran, als den ihn der Autor gezeichnet hatte. Weiter wären noch der ewig jugendliche Stefan Hunstein in diversen Männerrollen und Katja Bürkle als allgegenwärtige Erpresserin aus dem Harz-IV-Kälteland zu erwähnen.

Für Kenner der Novelle blieb die Spannung erhalten bis zum Ende – denn dort löst bei Zweig die perfide Intrige des eifersüchtigen Gatten nach ihrem Bekanntwerden bei Irene nicht etwa Wut und Hass, sondern genau die freudige Rückbesinnung auf den Wert ihrer Ehe aus, die sich ihr Mann erhofft hatte – eine Schlusswendung, die ganze Scharen von Deutsch-Schülerinnen auf die Barrikade gegen den Text und Zweigs Frauenbild gebracht haben dürfte.

Wieler und Tachelet beugen sich dem Diktat unserer Zeit, ihre tief erschütterte Irene wird mutmaßlich keinen Frieden mehr in ihrem Ehehimmel finden.