Ausstellung
Das Phantom Oktoberfest

Philip Gröning macht in der Münchner Villa Stuck die virtuelle Wiesn erlebbar

18.09.2020 | Stand 23.09.2023, 14:13 Uhr
  −Foto: Jann Averwerser, Philip Gröning, VG Bild-Kunst, Tommy Longo

München Der deutsche Regisseur Philip Gröning liebt offensichtlich die Extreme. Mit seinem Film "Die große Stille", gedreht in den Mönchs-Zellen der Großen Karthause, erregte er 2005 große Aufmerksamkeit und verlangte vom Kinopublikum eine fast drei Stunden dauernde Konzentration auf die wenigen Geräusche und subtilen Handlungen in einer Klosterzelle.

Dass Gröning gleichermaßen den Lärm und Trubel des Volksfestes liebt, bekennt er in seinem neues Projekt "Phantom Oktoberfest". Dafür nutzte er die Möglichkeiten von Künstlicher Intelligenz und schuf in der Villa Stuck einen Raum, wo für zwei kurze Wochen vergangene Oktoberfeste auf eine eigenwillige und artifizielle Art erlebbar gemacht werden.

"Am 21. April dieses Jahres habe ich mich vor allem gewundert, dass die Absage des Oktoberfestes so spät erfolgte", so Gröning bei der Presse-Eröffnung in der Villa Stuck am Freitag. Die Wiesn sei für ihn der großartige Beweis, dass 6 Millionen Menschen aller Nationen friedlich miteinander feiern können. Zum künstlerischen Thema wurde das größte Bierfest der Welt während seiner Gastprofessur an der Münchner Kunstakademie 2018/19 - dort sei die Künstliche Intelligenz als künstlerisches Ausdrucksmittel in den Fokus der Studierenden gerückt: "Hier haben wir einen ganz neuen Werkzeugkasten", so Gröning.

Ausgangsmaterial sind private Erinnerungsfotos und Videos vom Oktoberfest, die in vier verschiedenen Netzen öffentlich zugänglich sind. Diese "Realitäts-Splitter" wurden eingespeist in einen Rechner und von Künstlicher Intelligenz zusammengefügt. Der Computer steht dabei vor einer unlösbaren Aufgabe, nämlich einen bestimmten Ort zu rekonstruieren - im einen Fall das Löwenbräu-Zelt, im anderen das Hofbräu-Zelt. Das Ergebnis ist eine künstliche Welt, die aus den Splittern der realen Welt erschaffen wurde.

Acht Menschen sind in dem Ausstellungsraum gleichzeitig zugelassen. Wer in dem dunklen Raum eine Brille und Kopfhörer aufsetzt, befindet sich sofort in der blinkenden Lichterwelt des Bierzeltes. Zu ahnen sind die Dekorationen, die aufgereihten Biertische - aber nur schemenhaft sind die Menschen zu sehen, weil abertausende Bilder die gleichbleibende Architektur abbilden, die Menschenmassen aber stets unterschiedlich sind. Nur bruchstückhaft ist das Festzelt zu erkennen, wobei man sich dank der Technik virtuell durch den gesamten Raum bewegt. Sehr viel deutlicher wahrnehmbar und unterscheidbar sind dagegen die Geräusche aus dem Kopfhörer: das Rauschen der Stimmen, das Klirren der Bierkrüge, die Glöckchen am Pferdegeschirr, das Prasseln des Regens. Und so entsteht eine Symphonie von Bildern und Tönen, zusammengesetzt aus subjektiven Erinnerungsmomenten vieler Menschen. Es ist eine Summe von visuellen und akustischen Elementen, die in die Abstraktion führt, wenn runde Lichtpunkte auf das Auge zufliegen und wieder im Nichts verschwinden. Der Ort, das Festzelt, ist erkennbar, aber die einzelnen Individuen verschwimmen unter der Masse der eingespeisten Daten: "Je mehr Infos in den Computer eingehen, desto vager wird alles, weil es zu viele Informationen sind", erklärt Gröning.

Er selbst sieht diese Technik als zukunftsträchtig in der Kunst, weil das Kino in seiner Erzählhaltung nicht mehr zeitgemäß sei. Der große Regisseur sieht tiefgreifende Veränderungen durch die Streaming-Plattformen, die dem Nutzer nichts vorschreiben, während das Kino für drei Stunden den Bilderstrom diktiere, und das sei doch eine "ziemlich arrogante Haltung", so Gröning kritisch. Dass in dem Erlebnisraum der Villa Stuck nun menschliche "Wächter" individuell jeden Teilnehmer einweisen und die Technik verwalten und desinfizieren, ist der Corona-Pandemie geschuldet, schafft aber für die Besucher einen Inszenierungs-Rahmen.

Und im Jahr ohne Oktoberfest wird so das große Fest auf eine ganz innovative Art in Szene gesetzt und für Augen und Ohren zumindest bruchstückhaft erinnerbar. Dass der Computer durch ein Zuviel an Informationen letztlich scheitern muss - oder sein Ergebnis für den Menschen nicht mehr entschlüsselbar ist und nur als Unschärfe wahrgenommen wird - eröffnet freilich ein weites Feld philosophischer Diskussion.

DK


Bis zum 4. Oktober in der Villa Stuck, geöffnet von Mittwoch bis Sonntag 11 bis 18 Uhr, am 2.10. bis 22 Uhr.

Annette Krauß