Das Märchen von der Zauberenergie

18.05.2016 | Stand 02.12.2020, 19:48 Uhr

Zum Leserbrief "Belange der Bürger werden strikt ignoriert" (PK vom 30. April):

Es gibt aus Sicht der Anwohner verständliche Argumente gegen Windräder, die wirklich ernst genommen und sorgfältig abgewogen werden müssen. In den unzähligen Leserbriefen einer einzelnen Familie wird allerdings nicht nur "Null Windräder" gefordert, sondern die Energiewende insgesamt angegriffen. Immerhin werden dabei Gegenvorschläge zur Energiewende präsentiert. Diese sollen hier aus fachlicher Sicht eines Physikers, seit über zwei Jahrzehnten im Bereich Erneuerbarer Energien, ernsthaft diskutiert werden.

Der erste Vorschlag war, dass Erdgas-Kraftwerke die Kohle- und Atomkraftwerke ersetzen sollen. Richtig dabei ist, dass ein modernes Gaskraftwerk im Vergleich zu einem alten Kohlekraftwerk pro erzeugter Energie nur circa 55 Prozent der CO2-Emissionen verursacht. Der Klimavorteil stimmt aber nicht mehr, wenn man die Gasförderung einbezieht. Erdgas besteht fast vollständig aus Methan, das 25-mal so klimaschädlich ist als CO2. Wenn bei der Gasförderung mehr als drei Prozent des Gases entweicht, so ist der Klimavorteil von Erdgas bereits vollständig verloren. Wie viel Erdgas tatsächlich bei der Förderung und beim Transport abhandenkommt, ist schwer zu messen. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags zitiert Industrieangaben und Studien, die zu Leckraten zwischen einem und zwölf Prozent kommen. Eine laut Wissenschaftlichem Dienst hochrangig publizierte Studie der Universität Colorado und der amerikanischen Wetterbehörde fand über einem Gasfeld in den USA Leckraten zwischen sechs und zwölf Prozent. Wie es in Russland aussieht, wo unser Gas herkommt, wissen wir nicht, dort sind kritische Wissenschaftler unerwünscht. Nachdem in Russland der Umweltschutz wenig zählt, kann man annehmen, dass dort viel schlampiger als in den USA das Gas gefördert wird. Es kann also leicht sein, dass das russische Erdgas sogar viel klimaschädlicher ist als Kohle. Über die Abhängigkeit von Russland durch die Gasimporte kann man mit guten Gründen verschiedener Meinung sein. Dabei muss eine vernünftige Risikoabschätzung gemacht werden. Spielen wir mal den Fall durch, dass die russische Führung zwecks politischer Erpressung den Gashahn zudreht wie seinerzeit die Araber in der Ölkrise. Viele Haushalte sind bereits bei der Heizung auf russisches Erdgas angewiesen. Wenn nach einigen Monaten die großen deutschen Gasspeicher leer wären, würden die frierenden Menschen mit dem Elektroherd oder -backofen heizen, was natürlich den Strombedarf deutschlandweit stark erhöht. Was, wenn wir nun zusätzlich bei der Stromerzeugung voll auf Gas setzen? Man sieht, dann würde das Risiko plötzlich viel, viel höher. Eine vernünftige Energiepolitik kann daher wegen des Klimaschutzes und wegen des vielfach erhöhten Risikos nicht so einfach Kohle- und Atomstrom durch Gas ersetzen. Dabei würde auch der tatsächliche Vorteil von Gaskraftwerken nicht genutzt: dass sie flexibel sind. Erdgaskraftwerke zusammen mit Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen und flexibel gesteuerten Biogasanlagen können kurzfristig einspringen, um die restlichen Lücken zu schließen, bei denen die schwankende Strom-Erzeugung aus den Erneuerbaren Energien mit dem (ebenfalls schwankenden!) Verbrauch nicht übereinstimmt.

Am Ende schreibt Herr Huber noch: "Berichte aus der Forschung geben Anlass zur Hoffnung, dass in 30 bis 40 Jahren eine saubere und sichere Energieerzeugung die jetzige ablösen wird". Er verschweigt den Namen dieser Zauberenergie, doch vermutlich meint er Kernfusions-Reaktoren. Kernfusions-Reaktoren sind genauso Atomkraftwerke wie die Kernspaltungsreaktoren, die demnächst nach über 50 Jahren Irrweg abgeschalten werden, nur ist die Kernfusion Tausend mal schwieriger beherrschbar. Zur Kernfusion sind Temperaturen von über 100 Millionen Grad notwendig. Gleichzeitig sind zur Kühlung der supraleitenden Magnete, die das Höllenfeuer im Zaum halten sollen, extreme Minus-Temperaturen von -269 Grad nötig, und das eben in unmittelbarere Nähe zu den extrem hohen Temperaturen. Das ist eine sehr störungsanfällige Situation, wenn man mit diesem radioaktiv strahlenden Höllenfeuer tatsächlich riesige Energiemengen erzeugen würde. Im Gegensatz zur Kernfusion mit 100 000 000 Grad sind in einem normalen Kernkraftwerk nur 550 Grad zu beherrschen. Ein Kernfusionsreaktor ist im Vergleich zu bisherigen Kernkraftwerken wie ein Star-Wars-Raumschiff im Vergleich zum Fahrrad! Dass selbst für die vergleichsweise einfache Technik der bisherigen Kernkraftwerke das Risiko zu groß ist, dass in der Praxis neue Situationen entstehen, die man zuvor einfach für unmöglich gehalten hat, wie den Unfallablauf in Tschernobyl, ist heute bei uns allgemein bekannt. Natürlich geben die Forscher, die von den Forschungsprojekten zur Kernfusion leben, immer wieder kleine Etappen als Erfolgsmeldungen aus und sagen, dass es vielleicht in 50 Jahren soweit sein könnte. Dasselbe sagte man auch schon vor 50 Jahren. Auf jeden Fall wäre es fahrlässig, wegen so einer vagen Hoffnung abzuwarten, denn für den Klimaschutz wäre es dann zu spät. Wie die Forscher schon lange wissen und letztes Jahr endlich auch alle 195 Länder auf der Klimakonferenz von Paris beschlossen haben, muss jetzt gehandelt werden, sonst treten Effekte auf, wie das Auftauen der arktischen Permafrostböden mit Freisetzung des dort gespeicherten Methans, die den Klimawandel extrem verstärken und nicht mehr rückgängig zu machen sind. Aber stopp, eine saubere und sichere Kernfusion ist doch möglich. Ja, jetzt behaupte ich das Gegenteil! Einen perfekt funktionierenden Kernfusionsreaktor gibt es sogar schon, uns zwar schon ziemlich lange. Sein Vorteil ist ein Sicherheitsabstand von 150 Millionen Kilometer zu uns und sein Name ist Sonne. Natürlich bin ich persönlich besonders für Sonnenenergie, doch fairerweise muss man sagen: Die Energiewende funktioniert nur mit einem vernünftigen Mix aus den verschiedenen Erneuerbaren Energien. Das heißt nicht, dass jeder Standort für Windräder akzeptabel ist, aber mit "Null Windräder" wie die leserbriefschreibende Familie Huber fordert, geht es leider nicht. Dass durch eine Zauberenergie "alsdann die Belastung von Bevölkerung, Umwelt und Landschaften ein Ende haben wird", wie es in jenem Leserbrief hieß, das gibt es nur im Märchen.

Hermann Schrag

Reichertshausen