Das Leben ist anderswo

Radikale Reduktion: Christoph Mehler inszeniert Tschechows "Drei Schwestern" im Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt

25.06.2020 | Stand 23.09.2023, 12:33 Uhr
Eingefrorenes Sittengemälde: Ulrich Kielhorn, Karolina Nägele, Katharina Hintzen und Sarah Horak (von links) in Christoph Mehlers "Drei Schwestern"-Inszenierung. −Foto: Olah

Ingolstadt - Momentaufnahme in schwarz-weiß: Drei Schwestern im Widerstreit der Gefühle.

Irina ist in Feierlaune. Sie hat heute Namenstag. Mascha trauert. Um den Vater, der genau ein Jahr zuvor gestorben ist. Um die Situation, in die er sie gebracht hat. Vor elf Jahren war der Brigadekommandeur von Moskau in die Provinz beordert worden. Mit einem Schlag versiegte damit für seine Familie ein an gesellschaftlichen Ereignissen reiches Dasein. Jetzt sitzen seine Kinder hier fest - und sehnen sich zurück nach Moskau. Olga, die älteste der Schwestern, ist Lehrerin am Gymnasium geworden und fühlt sich ständig überfordert. Mascha, die Mittlere, hat jung ihren ehemaligen Lehrer geheiratet und ist in dieser Ehe gefangen. Irina, die Jüngste, ist zur Untätigkeit verdammt und träumt Kleinmädchenträume vom Glück. Drei Schwestern, die plaudern, in Erinnerungen schwelgen, die Zukunft beschwören. "Nach Moskau" wollen sie, flüstern sie, seufzen sie. Und hängen fest in dieser Sehnsuchtsschleife.

Klick! Christoph Mehler hat diesen Moment wie auf einem Foto eingefroren und in einem riesigen, weißen, bühnenportalbreiten Bilderrahmen ausgestellt. Doch die Farben verblassen. Denn immer mehr Katastrophen brechen über die drei Schwestern herein. Bruder Andrej heiratet die falsche Frau und verspielt das gemeinsame Erbe, ein Brand verwüstet die halbe Stadt, Mascha stürzt sich in eine Amour fou mit dem ebenfalls unglücklich verheirateten Werschinin, schließlich erlischt mit dem Abzug des Militärs der letzte Rest gesellschaftlichen Lebens und als sich Irina endlich zu einer Vernunftehe mit Baron Tusenbach entschließt, wird dieser im Duell getötet. Am Ende blickt man auf dasselbe Bild - und sieht die Schemen der drei Schwester samt ihrer Lebensträume im Dunkel verschwinden.

Nach Ibsens "Volksfeind" und Büchners "Leonce und Lena" präsentiert Christoph Mehler mit Tschechows "Drei Schwestern" bereits die dritte Produktion in markanter Regiehandschrift im Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt. Und überzeugt auch diesmal mit radikaler Reduktion, großer emotionaler Wucht und präzisem Schauspielertheater. Dabei entstand die Inszenierung unter schwierigen Bedingungen. Kaum drei Wochen waren geprobt, als der Corona-Lockdown kam. Und als Ende Mai nach drei Monaten Theaterstillstand wieder geprobt werden durfte, war alles anders. Nicht nur, weil die Gesellschaft seit Corona eine andere geworden ist. Plötzlich gelten auch neue Arbeitsschutzvorschriften und Abstandsregelungen auf der Bühne. Und länger als 90 Minuten soll auch nicht mehr gespielt werden.

Mehler erarbeitete ein neues Konzept. Eins, das er nicht als Corona-Kompromiss verstanden wissen will. Das in seiner Prägnanz und Struktur tatsächlich aufgeht. Tschechow wagt in seinem 1901 uraufgeführten Stück einen tragikomischen Blick in den Abgrund der menschlichen Seele. Er zeichnet das Bild einer Gesellschaft am Vorabend der Revolution, die die Veränderungen zwar herannahen sieht, aber unfähig ist zu handeln und in Agonie erstarrt. Seine Figuren lieben, aber die Liebe führt ins Nichts. Sie leiden an einer Zeit, die sich schneller bewegt, als es die Menschen vertragen. Und so weist der Regisseur diesen Figuren feste Plätze zu, lässt sie einfrieren in ihren isolierten Posen in den engen Grenzen dieses Bilderrahmens, den Blick ins Nirgendwo gerichtet, den Text nicht zueinander, sondern frontal ins Publikum sprechend. Leerräume ermöglichen Selbstreflexion. So erzählen sie viel, hören wenig zu und sprechen fast immer von sich. Tschechows spezielle Dialogtechnik, in der sich meist mehrere Monologe überschneiden, kommt Mehler da zupass. Gerade die Sprache ist sehr präzise gearbeitet, weist geradezu Hörspielcharakter auf, hier und da plauderige Konversation, schwesterliche Lästereien, Flirtversuche, trunkenes Gemurmel, Schreiduelle, Raserei. Aber es sind exakte Kompositionen aus Wort und Wort und Wort und Klang. David Rimsky-Korsakows Sound aus Herzklopfen und elegischem Klavier fügt sich mit Jennifer Hörrs bezwingender Schwarz-Weiß-Ästhetik für Bühne und Kostüme zu einem intensiven Theatererlebnis. Eins, das obgleich nicht zeitlich verortet, viel über den Ist-Zustand unserer Gesellschaft in Zeiten von Corona erzählt. Einsamkeit ist das tragende Element dieser eindringlichen Interpretation: Isolation, Sehnsucht nach Nähe, Angst, Desillusion, Gegenwartsverdruss, ein Leben ohne Empathie nach dem Prinzip der Beliebigkeit. Was tun? , fragt diese Inszenierung. Die Antwort der drei Schwestern: warten.

Trotz aller Tragik ist es eine Wonne, ihnen dabei zuzusehen. Denn Sarah Horak als Olga, Karolina Nägele als Mascha und Katharina Hintzen als Irina bilden in ihrer Verzweiflung ein perfekt aufeinander abgestimmtes Trio, jede für sich aber verleiht ihrer Figur große Dringlichkeit. Victoria Voss als Andrejs kleinbürgerliche Frau Natalja trumpft mit verstörend aggressivem Realitätssinn auf und weiß vor allem Ralf Lichtenbergs herrlich jämmerlichen Andrej mit ihren Sirenenrufen zu manipulieren. Weil beide auch in Wirklichkeit ein Paar sind, darf sogar geküsst werden. Jan Beller schenkt Maschas Ehemann Kulygin interessante psychopathische Züge. Marc Simon Delfs schwärmt in entzückender Naivität. Philip Lemkes Baron Tusenbach hat trotz aller outrierten Verspieltheit durchaus tragische Tiefe. Martin Valdeigs sonderlicher Soljony birgt Abgründe. Und Ulrich Kielhorns spielt souverän als Arzt und Säufer Tschebutykin auf der Klaviatur des Unglücks.

Starke Schauspieler. Ein starker Abend. Vor allem einer, der das Publikum auf sich selbst zurückwirft. Großer Applaus.

DK


ZUM STÜCK
Theater:
Großes Haus, Ingolstadt
Regie:
Christoph Mehler
Ausstattung:
Jennifer Hörr
Musik:
David Rimsky-Korsakow
Weitere Vorstellungen:
26. und 29. Juni, 1., 2., 4. und 6. Juli, jeweils 19.30 bis 21 Uhr; es gelten Mundschutzpflicht und Mindestabstand
Karten können ausschließlich telefonisch, (0841) 305 47 200, im Webshop unter www. theater. ingolstadt. de oder per E-Mail (theaterkasse@ingolstadt. de) erworben werden. Die Karten sind personalisiert.

Anja Witzke