Oper
Das Gespensterhaus

"Die tote Stadt" von Erich Wolfgang Korngold als mitreißendes Psychodrama an der Bayerischen Staatsoper

19.11.2019 | Stand 23.09.2023, 9:32 Uhr
Pauls Haus gerät aus den Fugen: Szene mit Marlis Petersen als Marietta und Jonas Kaufmann als Paul im Münchner Nationaltheater. −Foto: Höbl

München (DK) Paul ist rastlos. Gerade noch war er wie gelähmt, hat um seine viel zu früh gestorbene Frau Marie getrauert. Aber nun ist alles anders, seit er bei einem Spaziergang Marietta begegnete, die Marie bis aufs Haar gleicht.

Er hat sie zu sich eingeladen. Aber sein Haus selbst ist seit längerem unbewohnt. Eilig reißt Paul die weißen Laken von den Möbeln, packt aus, stellt Teller und Weingläser auf den Tisch, während die Musik quirlige Hektik verbreitet. Als Marietta auftritt, kann er die Ähnlichkeit mit seiner Frau kaum fassen. Er ist augenblicklich überwältigt, will die neue Freundin küssen. Aber Paul ist hin und hergerissen zwischen Leben und Tod. Als Marietta gegangen ist, erscheint ihm wie im Traum die tote Ehefrau, krebskrank, von der Chemotherapie erschöpft, kahlköpfig und ringt ihm Liebesversprechen ab. Paul sehnt sich nach einer Beziehung, aber noch kann er von seiner verstorbenen Frau Marie nicht lassen.

Welche Macht sollen die Toten über die Lebenden haben? Um diese Frage ging es dem erst 23-jährigen Erich Wolfgang Korngold, als er 1920 seine erste und erfolgreichste Oper nach Georges Rodenbachs Roman "Bruges-la-Morte" schrieb, Brügge, die tote Stadt. Symbolismus, die Lehre Freuds, aber auch ein Europa, das vom Tod von Millionen Weltkriegstoten gezeichnet war, sind das historische Umfeld, in dem diese Oper komponiert wurde. Dass dieses geniale Werk auch heute noch funktioniert, zeigen zahlreiche Inszenierungen der vergangenen Jahre, in denen Korngold so etwas wie eine späte Renaissance erlebt.

Um die Geschichte auch heute noch nachvollziebar zu machen, glaubt Regisseur Simon Stone allerdings, auf die morbiden und symbolistischen Bestandteile des Werks weitgehend verzichten zu müssen. Vom alten Glanz der historischen Stadt Brügge ist nichts zu spüren, ebenso wenig von der Düsterkeit des Todes, der über allem lastet. Stattdessen zeigt uns Stone ein strahlend weißes Allerweltshaus mit durchschnittlichem Mobiliar - das nach und nach aus den Fugen gerät. Denn Paul befindet sich nach der Begegnung mit Marietta zunehmend in einer surreale Traumwelt. Und auch das Haus verändert sich gespenstisch, rotiert immer schneller auf der Drehbühne, Wände verschieben sich, die Zimmer, zunächst noch schön aneinandergereiht, stapeln und trennen sich, leuchten geisterhaft. In dem wunderbaren Bühnenbild von Ralph Myers wird das Musikdrama vor allem zum Psychodrama. Überall tauchen plötzlich Gespenster seiner glatzköpfigen Frau auf, verfolgen ihn, treiben ihn in den Wahnsinn. Die Welt wird zum Irrgarten, Paul verliert im Freud'schen Sinne sein Ich, wenn er nicht mehr Herr im eigenen Haus ist, sondern sich in den Zimmern verirrt, Türen öffnen will, die zugemauert sind. Schließlich strömt eine religiöse Prozession auf die Bühne - lauter Pauls in Trenchcoats, Mariettas im Blumenkleid, die das Haus hermetisch umringen, Paul den Ausgang verstellen.

Einen erheblichen Anteil an der Intensität, die diese Inszenierung vermittelt, haben die Darsteller. Jonas Kaufmann als Paul und Marlis Petersen als Marietta gehören nicht nur zur sehr kleinen Gruppe der Opern-Superstars, weil sie fantastisch singen. Sie sind auch grandiose Darsteller, die über die Bühne hasten, springen, sich verausgaben - und das bei absolut kräftezehrenden Gesangspartien und einem spätromantischen Orchesterapparat, der alles an Klängen aufbietet von der Windmaschine bis zu den tiefen Glocken, einer Orgel und natürlich einem gigantischen Symphonieorchester.

So ist die Produktion der Bayerischen Staatsoper fast mehr noch ein Triumph der Musik als der Regie. Fantastisch, mit welcher Leuchtkraft Petersen die Marietta singt. Aber das noch größere Ereignis ist hier Jonas Kaufmann, der für diese Partie wie geschaffen ist. Sein schwerer Tenor kann die unglaublichen Farben, die er entwickeln kann, voll entfalten. So gibt er der Rolle eine Vielzahl an Valenzen der Verzweiflung, der rauschhaften Freude, der Betroffenheit, der Irritation.

Und ein Ereignis ist auch das Dirigat von Kirill Petrenko, der seit dieser Spielzeit gleichzeitig auch Chef der Berliner Philharmoniker ist. Das Staatsorchester bringt er trotz der enormen Größe dazu, extrem leichtfüßig, reaktionsschnell und elegant zu agieren. Ein Höhepunkt ist etwa das Ende des ersten Aktes, in dem er blitzschnell von einem schwermütigen Marsch zu einem überspannt munter-aggressiven Walzer wechselt - Pauls Zerrissenheit zwischen den beiden Frauen charakterisierend.

Die Oper endet in der Normalität der Einbauküche. Paul ist erwacht aus dem fiebrigen Wahn. Er verbrennt die Perücke seiner Frau, lässt die Vergangenheit ruhen und verlässt Brügge, die tote Stadt, mit der Bierflasche in der Hand.

ZUM STÜCK
Theater:
Bayerische Staatsoper
Musikalische Leitung:
Kirill Petrenko
Regie:
Simon Stone
Bühne:
Ralph Myers
Dauer:
195 Minuten
Weitere Vorstellungen:
22., 26. November; 1., 6., 11. Dezember (alle ausverkauft).
Kartentelefon:
(089) 21 85 19 20.

Jesko Schulze-Reimpell