München
Das Gedächtnis der Mohnblume

Walter Kuhn hat dem Münchner Königsplatz dreitausend Blumen und eine Friedensbotschaft geschenkt

06.11.2018 | Stand 23.09.2023, 4:53 Uhr
Sabine Busch-Frank

München (DK) Um ihn herum tobt das Chaos, Bohrhämmer jaulen, ein Lieferwagen rangiert, Menschen schleppen, hämmern, stellen Fragen - nur Walter Kuhn (72) ist die Ruhe selbst.

Die Baskenmütze auf dem Kopf steht er auf dem Königsplatz, und um ihn herum schießen monströse Mohnblumen aus dem Boden - oder besser: Sie werden hineingesteckt und emsig festgeklopft. Es gilt der Kunst. Die 3200 roten Blütenkelche aus Stahl und Stoff sollen Zeichen für den Frieden setzen, hier, wo nach 1935 großformatige "Weihefeiern" des NS-Regimes abgehalten wurden. Der Umgang der Münchner mit diesem zentralen Stadtport ist ein wenig unentschlossen, aber immerhin kann man von hier aus das vielbesuchte NS-Dokumentationszentrum sehen, wenn die Bewohner den Platz im Sommer für Konzerte und Picknicks erobern.

Der Künstler hat den Königsplatz noch in seinem früheren, mit Granitplatten für Aufmärsche aufgerüsteten Zustand kennengelernt, als der gebürtige Nürnberger 1976 in München zu arbeiten begann. Für ihn sind die Rückschau auf eine Kindheit in Trümmern und die Erinnerungen der letzten noch lebenden Zeitzeugen heute die Impulse, an den Krieg zu erinnern und zum Frieden zu mahnen. "Mir ist Erinnerungskultur immer dort unangenehm, wo man zum Beispiel "Helden" feiert, ich habe aber nichts dagegen, historische Daten zu zelebrieren. Mein Lieblingsdenkmal in Gentioux Frankreich trägt die Aufschrift "Maudite soit la guerre" - "Verdammt sei der Krieg". Diese Botschaft will ich eigentlich auch hier setzen. "

Das Symbol der Mohnblumen für die Gefallenen, deren improvisierte Gräber oft von diesen zartblättrigen Klatschrosen bewachsen waren, war Kuhn zunächst bei einem Museumsbesuch in Ypern/Westflandern aufgefallen, wo auf allen Monumenten in Erinnerung an Soldaten des British Empire diese Blumen zu sehen waren. In England werden schon seit 1920 "Remembrance Poppies" von der Royal British Legion verkauft, und der Kriegstotengedenktag heißt dort "Poppy Day". Der Künstler will seine sich wiegenden Blüten aber nicht nur als Erinnerung für die Gefallenen des ersten Weltkrieges verstanden wissen, sondern für alle zivilen und militärischen Opfer beider großen Kriege. Dass die Zahlenmystik dabei verloren geht - anders als etwa bei den 888246 Keramikblumen, die vor vier Jahren im Graben des Tower zu London für die britischen Gefallenen aufgestellt wurden - ist für Kuhn kein Problem. "Ich habe nicht die Blüten in Opferzahlen umgerechnet, sondern mir überlegt, wie ich den Platz ästhetisch damit fülle. So komme ich auf etwas über 3200 Exemplare. Auch dass die Blumen jetzt nicht, wie ich ursprünglich geplant hatte, streng geometrisch gesetzt werden sondern als wogendes Meer in unterschiedlichen Höhen, habe ich relativ spontan entschieden. "

Jetzt aber muss er seine Helfer erst einmal bremsen: "Geht einen Kaffee trinken, ihr seid zu schnell! " Das Engagement der Freiwilligen, die er für die drei Aufbautage und zur Betreuung der Installation mit Zeitungsaufruf und über Doodle gesucht hat, ist gewaltig, viel schneller als geplant schwellen die vier Mohnfelder auf dem Platz an.

Dabei war er im Sommer schon versucht gewesen, die ganze Angelegenheit nach eineinhalb Jahren Vorlauf einfach abzublasen. Zu kompliziert war alles geworden, und als zu quälenden Finanzierungs- und Genehmigungsfragen auch noch ein Bandscheinvorfall kam, wäre der Künstler im Unruhestand fast verzagt. "Sie ahnen ja nicht, was man bei so einer Veranstaltung alles bedenken muss, ich musste Anfragen beim Gartenbauamt, bei der Denkmalschutzbehörde und bei Verkehrsbehörden stellen, habe gelernt, was eine Spartenaufstellung ist, musste die Telekom und die Stadtwerke, Staat und Stadt befragen - und dann kam trotzdem noch jetzt, zehn Tage vor der Ausstellung, der Hinweis, dass die Sanierung der Glyptothek beginnen würde und mir dazu eine Bauhütte mitten in die Installation gesetzt werden sollte. Da hatte ich dann noch mal eine schlaflose Nacht", erzählt er.

Letztlich konnte aber auch diese Schwierigkeit abgebogen werden und bis zum 2. Dezember locken nun die Blüten nicht nur unzählige Selfie-Fans, sondern ein großangelegtes Begleitprogramm bereitet den 100. Jahrestages des Kriegsendes populärhistorisch auf. Die offizielle Eröffnung des Projektes findet am 11. November um 11 Uhr statt mit zwei Chören und Rednern aus Politik und Gesellschaft. Und Walter Kuhn fürchtet für die nächsten Wochen eigentlich nur noch zwei Dinge: Vandalismus und Sturm, beides könnte den zarten Blüten für den Frieden Schaden zufügen.

Sabine Busch-Frank