Ingolstadt
"Das Drama schadet dem Land"

Ingolstädter Politiker verschiedener Parteien fordern ein sofortiges Ende des Dramas in Berlin

02.07.2018 | Stand 23.09.2023, 3:37 Uhr
Kurz vor dem Showdown? Horst Seehofer in der aufwühlenden Nacht zum Montag vor Journalisten in München. −Foto: Foto: Kneffel/dpa

Ingolstadt (DK) Es sind dramatische Wochen, Tage, Stunden. Die Regierungs- und Unionskrise hält alle politisch Interessierten in Atem. Drei Ingolstädter Politiker, die Horst Seehofer kennen, gaben gestern auf DK-Anfrage ihre Einschätzung ab. In einem sind sich Eckehard Gebauer (CSU), Markus Reichhart (FW) und Achim Werner (SPD) einig: Dieses Drama schadet dem Land und muss dringend ein Ende haben.

Er saß am späten Sonntagabend vor dem Fernseher und konnte es kaum fassen: Markus Reichhart, Landtagsabgeordneter der Freien Wähler von 2008 bis 2013, war auf eine dramatische Entscheidung im Spiel Dänemark gegen Kroatien eingestellt, als diese Eilmeldung über den Sender ging: Horst Seehofer bietet seinen Rücktritt vom Amt des Bundesinnenministers und des CSU-Vorsitzenden an. Damit war für Reichhart klar: „Die Lage spitzt sich extrem zu.“ Der FW-Stadtrat sieht das Politdrama in Berlin mit großer Sorge: „Seehofer hat ohne Not − ich betone: ohne jede Not! − eine Krise heraufbeschworen, die der gesamten Bundesrepublik extremen Schaden zufügen kann.“

Vor allem wirtschaftlich, denn instabile politische Verhältnisse (wenn die Große Koalition platzt und/oder die Union zerbricht) mitsamt allen negativen Konsequenzen wie Unzuverlässigkeit der politischen Führung oder die Verunsicherung internationaler Partner schrecken ab; die Bundesrepublik gäbe ein schlimmes Bild ab. Reichhart sieht die CSU hier unheilvoll am Werk: „In der Partei gibt es die Tendenz, ,Merkel muss weg’. Aber glauben die in der CSU wirklich, dass ein Umsturz die Lage verbessert?“ Reichhart versteht auch nicht, „wieso Seehofer jetzt nicht sagt: ,Dank der CSU hat die Bundesrepublik auf EU-Ebene in der Asylbewerberfrage viel erreicht!’ Was ja auch stimmt. Stattdessen stellt Seehofer der Kanzlerin immer wieder ein neues Ultimatum. Das ist so, als würde man dreimal eine ,letzte Mahnung’ schreiben. Wer seinen Rücktritt androht, gehört doch schon gar nicht mehr zum Team! Seehofer hat seine Position komplett falsch eingeschätzt. Jetzt läuft alles auf ein unrühmliches Ende seiner Karriere hinaus. Seehofer verpulvert sein politisches Erbe. Er hat sich völlig verzockt! Es ist Wahnsinn, wie er alles mit seiner Person verknüpft. Auch der Streit in der Union ist politischer Wahnsinn! So etwas nehmen die Bürger nie als positiv wahr.“ Und das alles, der FW-Politiker sagt es noch einmal, „völlig ohne Not“.

Denn die Asylbewerber seien nicht mehr das größte Problem im Land, auch nicht in der Wahrnehmung vieler Bürger. „Das ist alles händelbar. Wir haben eine Infrastruktur aufgebaut, um die Ankunft von Flüchtlingen zu bewältigen, man kann das in Ingolstadt gut sehen. Es ist ein Irrglaube, dass man die Grenzen völlig dichtmachen kann! Auch da unterläuft Seehofer eine grandiose Fehleinschätzung.“

Als Freier Wähler könnte er der CSU nun eigentlich applaudieren. Mit der Strategie, weit nach rechts zu rücken, „wird sie die Landtagswahl krachend verlieren! Wir Freie Wähler können bestimmt einige Wähler aus der bürgerlichen Mitte abfangen.“ Er will aber niemandem applaudieren; dafür sei die Lage zu ernst.

Eckehard Gebauer, CSU-Mitglied und Vorsitzender des BZA Nordost, stand gestern kurz hinter Berlin im Stau, als ihn der DK erreichte. „Ich habe den Horst in der Hauptstadt aber nicht getroffen, weil er in München war − gut, auf mich hört er eh nicht.“ Er findet die Situation „einfach nur traurig, denn wir haben das nicht nötig. Wir könnten es uns auch anders leisten“. Die Krise bewegt Gebauer derart, dass er drastisches Vokabular bemüht: „Wir dürfen wegen der AfD nicht solche Scheiße machen! Natürlich sagen die meisten, wenn man sie fragt: ,Es sind zu viele Flüchtlinge da!’ Aber es kennt kaum einer die Tatsachen. Wenn ein Flüchtling eine Dummheit begeht, müssen 999 nette, anständige Flüchtlinge drunter leiden.“ Gebauer erzählt, das er zwei Asylbewerbern aus Afghanistan eine Wohnung vermietet hat, weil sie aus einem Heim raus mussten. „Die beiden sind ehrlich und lieb. Alles passt. Warum auch nicht?“

Und jetzt? „Merkel und Seehofer müssen miteinander reden und zugeben, dass sie beide Fehler gemacht haben. Würden alle beide jetzt zurücktreten, wäre das nicht falsch, denn die Angela macht es schon zu lange. Sie kostet die CDU Stimmen, das muss man sehen. Und der Horst muss einsehen, dass das mit den geschlossenen Grenzen, die er fordert, nicht funktioniert − da haben wir auch überhaupt nicht die Leute dafür.“

Gebauer befürchtet, „dass die CSU wegen der Landtagswahl im Oktober Dinge tut, die man nachher bereut“. „Der Horst ist kein Franz Josef. Und wenn es einen großen Knall gibt, dann haben wir wirklich ein Problem!“

Achim Werner, der SPD-Fraktionsvorsitzende, versteht nicht, „wie Seehofer sich das alles selbst und unserem Land antun kann“. Der CSU-Chef habe sich „in eine Zwickmühle manövriert − Seehofer kann gar nicht mehr gewinnen, denn was soll ihm Merkel jetzt noch bieten?“ Von einer dramatischen Situation an den Grenzen könne keine Rede mehr sein. „Es kommen schon seit Langem deutlich weniger Asylbewerber zu uns!“ Die CSU handle „verantwortungslos“, wenn sie auf einem nationalen Alleingang beharre. „Sollen wir die Italiener mit diesen Problemen allein lassen?“ Seehofers Forderung einer Zurückweisung von Asylbewerbern an der Grenze „ist eine Chimäre“, sagt der SPD-Politiker (er gehörte von 1998 bis 2013 dem Landtag an). „Als ob wir in diesem Land nicht ganz andere Probleme hätten! Wir haben steigende Altersarmut. Wir brauchen dringend Wohnungen. Hartz-IV-Empfänger werden drangsaliert. Wir haben einen Mindestlohn, von dem man kaum leben kann, schon gar nicht im Alter, auch wenn er jetzt erhöht worden ist − und dann spricht die CSU wochenlang nur noch von Flüchtlingen, die gar nicht da sind. Es ist lächerlich zu glauben, man könne alle Probleme an unseren Grenzen lösen!“ Man müsse die Flüchtlingsproblematik in einer viel größeren Dimension sehen. Als Herausforderung für die gesamte Weltgemeinschaft. „Und das mit so Leuten wie Trump.“

Werners düsteres Resümee: „Es ist ein Drama. Man muss sich wirklich Sorgen machen.“

Christian Silvester