"Dann ist es endgültig, dann ist er weg"

12.12.2008 | Stand 03.12.2020, 5:21 Uhr

Schmerzhafte Entscheidung: Will Luis Seibert Profi werden, muss er wohl die Stadt verlassen. Mutter Angie weiß das, und tut sich trotzdem schwer, eine Entscheidung zu treffen. - Foto: Bösl

Ingolstadt (DK) Luis Seibert ist Eishockeyspieler, und er ist talentiert. Zu talentiert sogar, als dass er beim unterklassigen Nachwuchs des ERC Ingolstadt bleiben sollte. Das wissen alle. Mitspieler, Zuschauer, Eltern und auch die Trainer. Die allerdings würden Seibert nur ungern gehen lassen und kämpfen um ihn. Immerhin könnte einer wie er irgendwann im eigenen DEL-Team zum Aushängeschild der Jugendarbeit werden.

Sind schon die Trainer im inneren Clinch, was sie ihrem talentiertesten Schützling raten sollen, stehen die Eltern Seibert vor einem emotional fast unlösbaren Problem. Sie müssen entscheiden, ob sie ihrem Herzen folgen, ihren Sohn behalten und ihm damit eine eventuelle Profikarriere vermutlich verwehren. Oder aber den Familienverbund opfern und dem 15-Jährigen eine professionelle Eishockey-Ausbildung zukommen lassen.

Bleiben kann er nicht

Fest steht jedenfalls, dass Seibert in Ingolstadt nicht bleiben kann, wenn er sich entscheidend weiterentwickeln will. Die Panther spielen zwar in der Jugend-Bayernliga, doch das reicht nicht, wenn ein Spieler im Fokus der Nationalmannschaft stehen will. Vater Klaus Seibert hat ganz genau beobachtet, wie geradlinig die vermeintlich verschlungenen Wege der Talentsichtung im deutschen Eishockey tatsächlich sind: "Nur wer in der Deutschen Nachwuchs Liga oder der Bundesliga spielt, wird von den Nationaltrainern beobachtet." Alle anderen, die bei unterklassigen Teams spielen, fallen durchs Raster.

Dass der groß gewachsene und körperlich robuste Stürmer, der schon mal elf Tore in einer Partie schießt, nicht in einer der beiden Eliteligen spielt, wirkte sich bei den U16-Turnieren in der Schweiz und in Finnland Anfang September aus. Erstmals seit langem wurde Seibert nicht nominiert. Vielleicht war es Zufall, vielleicht auch der sanfte Hinweis der Bundestrainer, sich nun endlich zu entscheiden.

Bereits seit einem Jahr bestehen Kontakte zum SC Riessersee und nach Bad Tölz. Dort könnte Seibert sofort ins Training einsteigen und wohl auch in der Deutschen Nachwuchs Liga (DNL) spielen. Die Trainer locken den Jugendlichen, und die Unterkunft wäre auch kein Problem.

Ein neues Leben

Tatsache ist jedoch, dass das Leben Seiberts nach diesem Schritt in komplett neuen Bahnen verlaufen würde. Er müsste umziehen, und in Ingolstadt würde er, da die Spiele seines Teams am Wochenende stattfinden, nur noch in der eishockeyfreien Zeit sein. Wenn die Eltern ihren Sohn künftig sehen wollten, müssten sie zu seinen Spielen anreisen.

Mutter Angie weiß genau, was das bedeutet. "Wenn er diesen Schritt macht, dann ist es endgültig, dann ist er weg", sagt sie etwas gepresst – und mit einem Gesichtsausdruck, der die innere Zerrissenheit über die bevorstehende Entscheidung und den Schmerz, der daraus entstehen könnte, widerspiegelt. Eine Mutter steht da, die gar nicht erst nach Ratschlägen fragt. Sie hat jeden Aspekt selbst schon hundertmal hin- und hergewendet, abgewogen – und die Entscheidung schließlich vertagt. "Wenn ich Ja sage, verliere ich mein Kind", hat sie schon vor einem Jahr gesagt. Keinen Schritt hat sie diese Erkenntnis seitdem weitergebracht.

Eine Qual

Es wäre ein totales Loslassen, ein schmerzhafter Moment, vor dem Eltern normalerweise frühestens mit der Volljährigkeit ihrer Kinder stehen. Angie Seibert wüsste von heute auf morgen nicht mehr, ob der 15-Jährige mit den richtigen Freunden umgeht, ob er sich vernünftig ernährt, rechtzeitig in die Schule kommt, wann und ob er lernt oder was er anzieht. Sie wäre abgeschnitten von all den Kleinigkeiten, Sorgen und Pflichten, die eine Mutter eben so beschäftigen. Schon die Vorstellung ist eine Qual.

Fast könnte man meinen, sie sollte doch Hoffnung schöpfen auf eine Entscheidung, die nicht von ihr selbst kommen muss, als plötzlich das Telefon klingelt, und Luis erklärt, er wäre beim Schulsport erneut auf die operierte Schulter gestürzt. Schon die gebrochene Schulter, die nach einer Fehldiagnose in Ingolstadt als Prellung bezeichnet, nach einer weiteren Untersuchung dann aber doch mit zwei Schrauben stabilisiert wurde, hätte das Ende all seiner Ambitionen sein können – eine erneute schwere Verletzung an der gleichen Stelle, nun vielleicht das endgültige Aus – und die Entscheidung für Ingolstadt. Luis beschreibt, dass es eigenartig gestochen hat in der Schulter und er Schmerzen hätte. Und plötzlich ist Angie Seibert wieder eine ganz normale Eishockey-Mutter, leidet sichtlich und fürchtet, ohne einen Gedanken an ihre eigenen Sorgen zu verschwenden, um die sportliche Zukunft ihres Kindes. "Mir ist ganz schlecht", sagt sie: "Wenn nur nicht wieder das Gleiche passiert ist." Am Abend dann die Gewissheit, dass die eventuelle Karriere, aber auch die Ungewissheit, wie es weitergehen wird, noch lange nicht zu Ende sind. Tags darauf wird Luis wieder auf dem Eis stehen.

Die Situation ist so belastend, dass die Seiberts sich manchmal wünschen würden, dass Luis einfach nur zum Spaß Eishockey spielen würde. "Das ist einfacher, dann müsstest du dir nicht so viele Gedanken machen", weiß sie: "Aber das ist ja das Gemeine. Weil er so gut ist und ich mich ja auch darüber freue, muss ich die Entscheidung fällen, ob ich ihn weggebe oder nicht."

Das wäre noch einfacher, wenn Luis zumindest selbst wüsste, was er will. "Wenn es ein Herzenswunsch von ihm wäre, würde ich ihn gehen lassen", sagt sie. Doch der 15-Jährige ist unschlüssig. "Ich weiß auch nicht, was ich machen soll", sagt er, als er inmitten seiner Kumpels bei einem Spiel der zweiten Mannschaft des ERC steht und sofort zu spüren ist, dass genau das hier seine Welt ist: "Wenn ich irgendwo anders hin gehe, verliere ich alle meine Freunde."

Für Vater Klaus ist das nicht das entscheidende Argument. Viel leichter als seine Frau würde er seinem Sohn zugestehen, "ins Leben hinauszugehen. Das kann nur positiv sein." Nur kennt er seinen Sohn so gut, dass er um die schulischen Leistungen des Handelsschülers fürchtet: "Wenn man halt wüsste, ob er dann trotzdem noch lernt"

Riskantes Geschäft

Denn aufs Eishockey-Profigeschäft zu setzen, ist riskant. Schließlich verdient ein deutscher Profi nur selten mehr als 50 000 bis 100 000 Euro pro Saison. Und eine Profi-Karriere kann kurz sein.

Seiberts letztjähriger Coach Thomas Gayerhoß weiß, dass eine Entscheidung bald anstehen muss. "Es ist hart. Aber zwischen dem 16. und 17. Lebensjahr entscheidet sich alles. Ob du es packst im Profibereich oder ob du versauerst." Mindestens Bundesliga müsste Seibert also spielen. Sollte die ERC-Jugend, die unter ihrem Trainer Christian Deichstetter den Aufstieg in diese Klasse anstrebt, die Bundesliga erreichen, wird Seibert wohl bleiben. Wenn nicht, steht wahrscheinlich ein Wechsel an. Nach Tölz oder Riessersee. Ein Kompromiss wäre Regensburg, wo ebenfalls Bundesliga gespielt wird. Tägliches Pendeln wäre die Konsequenz, doch die Frage bleibt, ob das neben der Schule durchzustehen ist – abgesehen von der Frage, ob ihn die Bundesliga tatsächlich weiter bringt. Noch eine Variante also, die Angie Seibert die Entscheidung nicht leichter macht.

"Da muss sie durch"

Thomas Gayerhoß wäre konsequent, er würde die Trennung von der Familie akzeptieren. "Da muss die Angie durch" sagt der Ex-Profi, der allerdings einen Rat beherzigen würde, den sein Vater ihm in seiner eigenen Jugend gab: "Eine Schulausbildung musst du vorher haben."