Eichstätt
"Da warte ich schon immer drauf"

Ambulante Pflegedienste fahren zu jeder Jahreszeit von Patient zu Patient - Ein Auftrag zwischen Beruf und Berufung

07.06.2018 | Stand 23.09.2023, 3:27 Uhr
Höchst willkommener Besuch im Eichstätter Stadtteil Buchenhüll: Altenpflegerin Gerlinde Mayer und Patient Heinrich Stöckl (74). −Foto: Auer

Eichstätt (DK) Kaum ein Tag vergeht ohne Schreckensmeldung mit der Überschrift "Pflegenotstand". Momentan läuft in Berlin ein "Pflegekongress" - gewiss erneut Anlass für besorgte Mienen. Höchste Zeit also für einen Blick in den ganz normalen Alltag in der Region. Wir haben einen ambulanten Pflegedienst begleitet. Siehe da: Jammern gilt nicht.

Der frühe Vogel fängt den Wurm - die frühe Altenpflegerin aber setzt die Diabetespritze. Es ist 6.15 Uhr und Gerlinde Mayer (59) hat im Eichstätter Stadtteil Buchenhüll den ersten Termin ihrer Schicht. Heinrich Stöckl (74) wartet schon auf sie. Auf dem "Programm" stehen wie immer die Blutzuckermessung und die Insulin-Injektion. Nach einem Schlaganfall schafft der Rentner das nicht mehr ohne Hilfe. "Das funktioniert wunderbar", sagt Stöckl über die Kooperation mit den Schwestern von der Caritas-Sozialstation in Eichstätt, die zweimal täglich bei ihm vorbeikommen. "Da warte ich schon immer drauf." Logisch - denn erst ein Weilchen nach der Injektion kann es Frühstück oder am Abend Brotzeit geben. Und außerdem ist Besuch einfach schön.

Bloß muss Gerlinde Mayer gleich wieder weiter. Hektik verbreitet sie zwar unter keinen Umständen, aber Trödeln kommt auch nicht in Frage. Den kleinen Plausch gibt es ganz beiläufig. Anders ginge es nicht bei 15 Patienten, die Mayer an diesem Vormittag auf ihrer Liste hat. Alle wohnen sie in einem kleinen Gebiet nördlich von Eichstätt, auf der Jurahöhe zwischen Rupertsbuch und Sornhüll. Und Mayer bewegt sich da wie der Fisch im Wasser. Sie kommt schließlich ihrerseits genau aus diesem Gebiet, aus Seuversholz. Sie kennt den Menschenschlag, sie kennt die Milieus. Sie ist eine von ihnen.

Und das soll so sein, sagt ihr Chef Josef Wintergerst, der Leiter der Caritas-Sozialstation Eichstätt. Zusammen mit der Pflegedienstleiterin Sandra Bauch berichtet er über die Arbeit der 73 Schwestern, die im Bereich des "Altlandkreises Eichstätt", zwischen Wellheim und Denkendorf, im Einsatz sind. Alle arbeiten nach Möglichkeit ganz in der Nähe ihres Wohnorts . "Bis auf den Chef kein einziger Mann", sagt Wintergerst. Liegt das an der Bezahlung? Nein, eher daran, dass es durchweg Teilzeitjobs sind, aufgeteilt in Früh- und Spätdienste. Für viele Frauen passt das, Männer suchen eher Vollzeitstellen. Aber grundsätzlich gilt: Pflege ist weiblich, auch in den Heimen.

Die Arbeitszufriedenheit scheint groß zu sein, denn "die Fluktuation ist bei uns sehr niedrig", sagt Sandra Bauch. Und Wintergerst berichtet, dass manche der Schwestern auch nach Erreichen der regulären Altersgrenze noch auf 450-Euro-Basis dabei bleiben. Die andere Seite der Medaille: "Wir haben in der ambulanten Pflege einen sehr hohen Altersdurchschnitt."

Wer gutes Pflegepersonal hat, tut gut daran, es buchstäblich pfleglich zu behandeln. Denn der Markt ist auch in der Region sehr eng. "Wenn wir eine Ausschreibung machen, kommt es vor, dass wir keine einzige Bewerbung kriegen", sagt Josef Wintergerst. Nicht zuletzt dank Mundpropaganda oder durch "glückliche Fügung" gelinge es der Sozialstation aber momentan, alle Stellen zu besetzen. Und nach wie vor weise der ambulante Pflegedienst niemanden ab, betonen Wintergerst und Bauch. "Pfleger ist auch ein Stück Berufung", sagt Wintergerst.

Gerlinde Mayer ist Feuer und Flamme für ihren Beruf. "Mir macht es Spaß, und wenn ich manche Auszeiten kriege, dann kann ich anschließend auch wieder gut starten." Das ist unübersehbar, wenn sie mit ihrem kleinen, weißen Skoda übers Land fährt, von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus. Seit 2004 macht sie diese Arbeit schon. Sie ist die klassische "Quereinsteigerin" - eine Bäuerin mit sechs Kindern, die im Alter von 40 Jahren beschloss, beruflich einen neuen Weg zu gehen. Sie besuchte die Altenpflegeschule des Landkreises in Eichstätt, die damals exakt für diese Klientel eine Ausbildung in Teilzeit anbot. Und nach insgesamt vier Jahren war sie startklar. Sie macht jetzt den Frühdienst, arbeitet etwa 14 Tage im Monat. "Mehr ginge nicht aus meiner Sicht", sagt sie. "Es ist eine belastende Arbeit mit hoher Verantwortung." Die Schwester müsse permanent im Gespräch sein, ständig ihr komplettes Wissen parat halten, immer freundlich sein und offen für die Anliegen der Patienten. Und bei alledem sei man allein. Für wen das nicht passt, der merkt das ganz schnell und sucht sich ein anderes Arbeitsfeld in der Pflege - etwa in einem Altersheim.

Es sind überwiegend Senioren, teils hoch betagt, die von Mayer besucht werden. Aber vermehrt, so berichtet sie, sind auch jüngere Frauen darunter. Krebspatienten, die über einen Port, also einen zentralen Venenkatheter, ernährt werden müssen. "Meistens haben sie Kinder", sagt sie - und damit ahnt man schon etwas von den Tragödien, die eine Pflegeschwester zu sehen bekommt. "Manchmal geht es schon sehr nahe", sagt Mayer. Aber sie versuche, Privatleben und Beruf möglichst zu trennen.

Manche ihrer Patienten haben eine osteuropäische Pflegerin im 24-Stunden-Einsatz, weil die Famile sonst völlig überfordert wäre. Aber eines wird an diesem Morgen sehr deutlich: In aller Regel funktionieren auf dem Land die Familienverbünde. Da ist niemand auf sich alleine gestellt, überall kümmern sich Kinder, Ehepartner, Enkel, Geschwister. Manchmal allerdings bis zur Selbstaufopferung. Eine ambulante Altenpflegerin bekommt, ob sie das will oder nicht, tiefe Einblicke in die Strukturen von Familien, auch in Zerwürfnisse, alte, halb verdrängte Konflikte, die erst jetzt aufbrechen, wenn durch einen Pflegefall, eventuell noch mit Demenz, die Belastung groß und größer wird. "Da ist eine gefestigte Person nötig", sagt Gerlinde Mayer, für die die Schweigepflicht oberstes Gebot ist. Einmischen kann und will sie sich ohnehin nicht, wenn sie im Lauf der Zeit spürt, dass da etwas in der Luft liegt. "Man kann eine Familiengeschichte nicht ummodeln."

Umso bemerkenswerter, dass ein Reporter ganz unkompliziert gleich reihenweise die Zustimmung erhält, zusammen mit Gerlinde Mayer ins Haus zu kommen. Meistens sind es kleine, aber unabdingbare Verrichtungen, die an diesem Morgen anstehen. Die Bedeutung von Kompressionsstrümpfen ist dem Laien so lange unklar (und gleichgültig), bis er ein sogenanntes Offenes Bein sieht - die Beinvenen schaffen bei alten Menschen ohne diese ganz engen Korsagen den Bluttransport nicht mehr gut - ohne Hilfe wären die Folgen verheerend. Und glaube niemand, dass so ein Strumpf sich leicht anziehen ließe! So geht es auch bei vielen anderen Dingen.

"Das ist das Allerwichtigste, dass die Schwestern kommen", sagt deswegen Christa Seitz (83) aus Wintershof, die ihren 85-jährigen Ehemann Xaver Seitz liebevoll pflegt. Er hatte früher einen kleinen Natursteinbetrieb, hat immer schwer gearbeitet. Jetzt wird er gebrechlich. Christa Seitz erhält viel Unterstützung von ihren Kindern. Aber am Morgen braucht sie unbedingt die Hilfe der Caritas-Schwester. "Hoffen wir, dass es noch ein paar Jahre so weiter geht." Dass ihr Mann eines Tages ins Heim käme, mag sich die Ehefrau gar nicht vorstellen: "Das wäre das Allerletzte, was ich meinem Mann antun möchte."

Sozialdienstleiter Josef Wintergerst hätte da schon eine Vorstellung, wie man es schaffen könnte, dass die alten Menschen so lange wie möglich zu Hause bleiben können, ohne dass ihre Angehörigen sich völlig verausgaben müssen: die Koppelung von ambulantem Pflegedienst und der Tagespflege mit Hol- und Bringdienst. Er plant den Bau einer Tagespflegeeinrichtung in Eichstätt, erzählt er. Die Menschen könnten hier einen oder auch mehrere Tage in der Woche verbringen. Abends wären sie wieder zu Hause. Es gibt solche Plätze schon im Landkreis. Aber Wintergerst findet auf dem überhitzten Immobilienmarkt kein Grundstück zum Kauf. Er ist überzeugt, dass es diese Einrichtungen bald flächendeckend geben wird. "Tagespflege ist etwas, was der Markt in Bayern erkannt hat und worauf er reagiert." Ob die Politik das Pflegegeld um 10 oder 15 Euro erhöhe, sei den meisten Menschen dagegen ziemlich egal. Viel wichtiger sei es, die Strukturen zu fördern." Einen Kurzzeitpflegeplatz, etwa für vier Wochen, damit Angehörige endlich einmal wieder Urlaub machen können, muss man lange suchen. "Das ist fast unmöglich", sagt Sandra Bauch.

Mit gemischten Gefühlen sehen die beiden Fachleute die Unterstützung durch osteuropäische Pflegerinnen, die rund um die Uhr im Haus des Patienten leben: "Es klappt manchmal gut und manchmal weniger gut", sagt Wintergerst. "Das ist auch für die Frauen selbst kein einfacher Job." Sandra Bauch hält diese Art der Selbsthilfe für "eine gute Ergänzung". Doch Wintergerst gibt zu bedenken: "Es lässt sich sowohl arbeitsrechtlich als auch beim Lohn nicht ansatzweise abbilden. 24 Stunden Arbeit am Stück - das ist eine Katastrophe." Seine Idee wäre, dass sich die Pflegerinnen aus Osteuropa einen Schichtdienst organisieren könnten, in einer Art Wohngemeinschaft.

Und wie sieht das mit der angeblich überbordenden Bürokratie und Dokumentationspflicht im Pflegewesen aus? Bauch sagt: "Die Schwestern müssen schon dokumentieren - aber so schlimm ist es wirklich nicht."

Bei Gerlinde Mayer läuft die Buchführung auch dank eines speziellen Programms auf dem Handy ziemlich unaufwendig. Eine Akte aus Papier gibt's trotzdem noch - da müssen die Patienten wöchentlich unterschreiben. Das geschieht ganz nebenbei am Küchentisch. Und so geht es dann vom 90-jährigen Franz-Xaver Margraf aus Pollenfeld nach der Bandagierung der Beine mit Schwung weiter zum Nachbarn Johann Wittmann: Der braucht ein Stützkorsett. Wittmann (82) ist ein echtes Pollenfelder Original, ein fröhlicher Wirtshausmusikant - aber jetzt bremst ihn ein künstlicher Darmausgang aus. Da würde er sich beim Wirt genieren. Über den Pflegedienst sagt er: "Diese Einrichtung ist einmalig. Ich wüsste nicht, was ich sonst machen würde. Und das sieht bestimmt jeder so." Dann grinst der Witwer übers ganze Gesicht: "In alle Schwestern, die kommen, könnte man sich verlieben."

Richard Auer