Riedenburg
Burgfräulein auf Heimatbesuch

Eine Lebensrettung machte es möglich: Gisela Plura wurde 1945 auf der Rosenburg geboren

22.06.2018 | Stand 23.09.2023, 3:32 Uhr
Bei einer Stadtführung besuchte Gisela Plura (Zweite von rechts) ihre Geburtsstadt Riedenburg. −Foto: Foto: Plura

Riedenburg (DK) Gisela Plura wohnt zwar im bayerischen Schwaben, doch geboren ist sie im Herzen Riedenburgs. Als vermutlich einziger, noch lebender Mensch kam sie auf der Rosenburg zur Welt. Vor zwei Wochen war das emeritierte Burgfräulein zu Gast an alter Wirkungsstätte, wo es sich für sie noch immer besonders anfühlt.

Es ist ein sommerlicher Augusttag im Jahr 1945. Gertrud Feige spaziert mit ihren zwei Töchtern und dem Sohn an der Altmühl entlang, die Kinder mögen das Wasser. Es ist keine drei Monate her, dass die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben, in Riedenburg sind amerikanische Besatzer stationiert. Gertrud Feige hört plötzlich Hilferufe aus dem Fluss, der noch nicht weiß, dass er einmal ein Kanal werden wird. Ein Mann taucht immer wieder auf und ab. Dass er zu ertrinken droht, ist Gertrud Feige sofort klar.

Die 30-jährige Mutter lebt in Riedenburg als Vertriebene, aber in ihrer Heimat Schlesien war sie Rettungsschwimmerin. Sofort befiehlt sie ihrem neunjährigen Sohn, auf seine zwei kleinen Schwestern aufzupassen. Feige springt in die Fluten und rettet den Mann vor dem Tod. Ganz nah dran am Geschehen ist auch Gisela Plura. Denn mit der heute 73-Jährigen war Gertrud Feige damals im sechsten Monat schwanger.

Es ist eine Geschichte, die viel über die damalige Zeit erzählt: Denn der gerettete Mann ist Arzt der in Riedenburg stationierten US-amerikanischen Streitkräfte, Gertrud Feige und ihre Kinder sind Kriegsflüchtlinge und ihr Mann darbt in russischer Kriegsgefangenschaft. Die Familie durchleidet die Wirren der Nachkriegszeit, wie so viele Familien damals. Das bedeutet Wohnen in Baracken, mehrere Umzüge, Integration in einem neuen Deutschland und vor allem: nicht allzu viel sprechen über das, was war. Doch diese Geschichte hat für Riedenburg einen historischen Aspekt. Denn Gisela Plura, die bei der Rettung aus der Altmühl ganz nah dran war, ist wohl der einzige noch lebende Mensch, der auf der Rosenburg geboren wurde. Und zwar, gerade weil sie bei der Rettung aus der Altmühl im Mutterleib mit dabei war.

Gisela Plura ist ein fröhlicher Mensch. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Erich wohnt sie in Stoffenried bei Günzburg. Das ist der Teil Bayerns, wo man eher "Noi" als "Na" sagt. Dass sie im bayerischen Schwaben nicht nur wohnt, sondern auch sozialisiert wurde, hört man ihr mit jeder Silbe an. Plura machte eine Lehre als Schneiderin, zog drei Kinder groß und arbeitete als Verkäuferin. Ihr Mann war Schweißer in einer Firma, die landwirtschaftliche Maschinen produziert. Sie sind beide Mitglied im Kultur- und Heimatpflegeverein, und der bot einen Ausflug in ein gewisses Riedenburg an.

"Ich habe zu meinem Mann gesagt: ,Da fahren wir mit'", erzählt Plura. Denn Riedenburg steht nicht nur auf dem Ausflugsprogramm, sondern auch in ihrem Personalausweis. Vor 45 Jahren war Plura schon einmal in ihrer Geburtsstadt, auch beim zweiten Mal fühlt es sich besonders an. "Da bin ich her", sagt sie. "Das ist meine Heimat." Natürlich sagt sie eher: "Des isch mei Homat."

Wie Riedenburg zu dieser Heimat wurde, ist mindestens genauso besonders wie das Gefühl beim Besuch. Nachdem Pluras hochschwangere Mutter den amerikanischen Arzt aus der Altmühl gezogen hat, bemerkt dieser sofort, dass seine Retterin Nachwuchs erwartet. "Auf der Rosenburg war damals ein Lazarett der amerikanischen Streitkräfte, wo dieser Arzt gearbeitet hat", erzählt Plura. "Aus Dankbarkeit hat er meiner Mutter versprochen, dass er mich dort entbinden würde." Gertrud Feige nimmt das Angebot an, eine Krankenschwester der US-Besatzer kümmert sich in den Tagen vor und nach der Geburt um die Geschwister. Gisela Plura erblickt am 29. November 1945 das Licht der Welt und lebt acht Tage lang auf der Rosenburg - und weitere eineinhalb Jahre in Riedenburg.

Danach zieht die Familie weiter. Nach Nördlingen zunächst, später nach Neu-Ulm, wo Pluras Vater nach der Kriegsgefangenschaft bei der Eisenbahn arbeitet. Dass sie auf einer wahrhaftigen Burg zur Welt kam, erfährt sie erst, als sie den Bund der Ehe eingeht. Wieder so eine besondere Fügung: "Meine Mutter hatte ja keine Unterlagen, für die Hochzeit brauchten wir aber Dokumente", sagt Plura. Einen Anruf im Riedenburger Rathaus später weiß sie: "Ich war für acht Tage ein Burgfräulein."

Diesen Titel haben nicht viele Menschen in ihrem Lebenslauf. Doch ihre Durchlaucht übt sich in Bescheidenheit. "Der Touristenführer war total fasziniert davon, dass ich auf der Rosenburg geboren wurde", sagt Plura und lacht. "Er meinte, dass er noch nie jemanden getroffen hätte, der auf der Rosenburg zur Welt kam." Die mitgereisten Freunde und Bekannten wissen von der royalen Vergangenheit nichts. "Damit gehe ich ja nicht hausieren." Die neue Faktenlage führt schlagartig zu Diskussionen. In der Reisegruppe stellt eine Mehrheit klar, entgegen den Pflichten des Protokolls den Hofknicks zu verweigern. Gisela Pluras Ehemann krönt sich selbst vor versammelter Gefolgschaft spontan zum König. "Wir hatten eine mords Gaudi", sagt Plura.

Bei all dieser ansteckenden Leichtigkeit, mit der eigenen Lebensgeschichte umzugehen, erzählt dieser Besuch in Riedenburg auch etwas über den Begriff Heimat. Das Jahr 1945 ist lange her, doch damals wie heute suchen Flüchtlinge einen Platz in diesem Land. Parteien und Organisationen aus allen gesellschaftlichen Bereichen versuchen, den Heimat-Begriff in ihrem Sinne zu besetzen. Doch Heimat ist etwas Abstraktes, bedeutet von Mensch zu Mensch ganz Unterschiedliches. Gisela Plura kann sich weder an die achttägige Amtszeit als Riedenburger Burgfräulein, noch an die eineinhalb Jahre in der Dreiburgenstadt erinnern. "Homat" ist dieser Ort für sie dennoch zu einem gewissen Teil. Weil er etwas in ihr auslöst, weil er einen Teil der Familiengeschichte symbolisiert. Das wird einem Menschen häufig dann bewusst, wenn er an diesen Ort zurückkehrt.

So erging es auch Gisela Pluras älterer Schwester Waltraud Jose, die vor zehn Jahren Riedenburg besuchte, und sich an einiges erinnern konnte. "Sie war fünf Jahre alt, als wir in Riedenburg waren, und hat das Haus, in dem wir damals wohnten, wieder gefunden", sagt Plura. Heute ist dort ein Café, der Garten an der Rückseite ist auch noch da. Der Bach dahinter ist aber weg. "Unsere Mutter hat meine Schwester immer geschimpft, wenn sie im Bach gespielt hat. Mit Gefahren im Wasser kannte sich die Rettungsschwimmerin schließlich aus. Auch aus der Donau rettete sie später zwei Menschen vor dem Ertrinken.

In Riedenburg wurde die Innenstadt erneuert, die Altmühl ist inzwischen ein Opfer des Main-Donau-Kanals geworden. Weil das kleine Bächlein heute phasenweise unterirdisch verläuft, konnte es die Schwester nicht finden. Gisela Plura findet Riedenburg trotzdem toll. "Die Leute sind freundlich und zuvorkommend. Hier gibt es richtig schöne Häuser." Natürlich sagt sie eher "Hoisle." Was sie an den Riedenburgern schätzt: Sie scheinen sich an ihr altes Burgfräulein zu erinnern. "Sie müssen gewusst haben, dass ich komme", sagt Plura und lacht. "Es lag kein Dreck auf der Straße, die Stadt war richtig herausgeputzt." Das ist ja auch das Mindeste, wenn der Hochadel der Geburtsstadt die Ehre erweist.

Christian Missy