Ingolstadt
Bewegung in jeder Form

Mit einem vierstündigen Bühnenabend endete am Samstag das Zweite Internationale Tanzfestival in Ingolstadt

16.09.2012 | Stand 03.12.2020, 1:04 Uhr

Frau im imaginären Würfel: Anna Healy von der YouMove Company aus Sydney - Foto: Rössle

Ingolstadt (DK) Der Abend ist lang, sehr lang. Und es fehlt ihm ein wenig an der Frische und Leichtigkeit, mit denen das Internationale Tanzfestival Ingolstadt 2011 den fulminanten Schlusspunkt setzte. Denn diesmal hat man den „Großen Bühnenabend“, das Highlight des Tanzfestes, statt ins Exerzierhaus mit seiner stimmungsvollen Off-Atmosphäre ins Große Haus des Stadttheaters gelegt und statt drei gleich sieben ausführliche Choreografien auf den Plan gesetzt.

Die galt es vier Stunden lang festgenagelt auf Theatersitzen zu goutieren; ein Vorhaben, das nicht alle Zuschauer zu Ende führten. Der Rest der eingefleischten Tanzfans im (nur zu einem Drittel besetzten) Saal freilich jubelte frenetisch, als eine halbe Stunde vor Mitternacht der letzte Vorhang fiel.

Und man hatte ja auch jede Menge geboten bekommen. Namhafte Compagnien aus Australien, Italien, Deutschland und der Schweiz. Tanztheater und Bewegungsstudien. Einzel-, Paar- und Ensemble-Choreografien. Klassische Musik, moderne Kakaphonien und rhythmisches Schlagen dazu. Ein wenig Hitchcock, ein wenig Beziehung, ein wenig Gesellschaftskritik. Roter Faden? Natürlich nicht. Das ganze Spektrum des zeitgenössischen Tanzes zu zeigen, ist schließlich Intention des veranstaltenden Kulturwerks. Schade nur, dass das im gegebenen Ambiente manchmal zu einer Art Demo-Reigen verkommen wollte.

Was natürlich individuellen Glücksmomenten keinen Abbruch tat.Wunderbar ist die Eröffnung des Abends mit den Imperfect Dancers aus Italien. Deren Gründer Walter Matteini, der in der vergangenen Spielzeit mit Olaf Schmidt den bemerkenswerten Tanzabend „Schatten“ für das Theater Regensburg choreografierte, zeigte nun unter seiner Federführung und der seiner Kollegin Ina Broeckx das poetisch-packende „Thinking outside the Box“: drei Frauen, vier Männer in Interaktionen des Lebens, der Begegnung, des Schmerzes, der Paarungen und Entzweiungen. Berückend komplexe Tanzsprache, unglaubliche Präzision, ruhige Reduktion – zu Recht hier die ersten Bravorufe.

Das Gegensatzprogramm wird am Ende übrigens das schweizerische Marcel Leemanns Physical Dance Theater liefern: mit einer visuell und mit Bedeutung vollgeladenen Performance. Dass es bei „Meat Market“ um den menschlichen Fleischmarkt geht, kann niemand missverstehen. Schon wegen des Videos nicht, das zur Fleischbeschau aufgehängte Tänzerkörper oder schlingende Münder in Endlosschleife und Großaufnahme zeigt. Die Choreografie davor: unablässiges sich An- und Ausziehen aus Kleiderbergen, die die Marktplatz-Begrenzung bilden, Fallen und Herumgetragenwerden, Rennen und Toben, wilde Bewegung. Nicht immer hochvirtuos: Auch mit Laien arbeitet der renommierte Schweizer.

Zwischen diesen Eckpunkten des Abends die Einzelkämpfer und Paare. Drei Tänzerinnen-Soli bietet die australische YouMove Company: das humorvoll-gruselige Porträt einer Serienmörderin (Kay Armstrong), den Kampf um Verstehen und Raum einer Person in einem imaginären Würfel (Anna Healy) und ein gesellschaftskritisches Statement (Beispiel Wassermangel in Südafrika) zum Raubbau der Ressourcen. Alles wird viel beklatscht, ist aber nur ansatzweise packend auf der großen leeren Bühne. Auch das Tanzstück des Italieners Raffaele Irace, der für seine Very Secret Dance Society zwei Tänzerinnen in den Harmonie-Ring steigen lässt, wundert ein wenig. Von glattgeschliffener Ästhetik ist diese Choreografie.

Wie anders da der schräge Pas de deux der Muddyboots aus Frankfurt. Das renommierte Tanzpaar Ekaterine Giorgadze und Jason Jacobs setzt ein unspektakuläres, aber umso strahlenderes Leuchten ins Programm. Wiewohl sie in ihrer Choreografie zweier im Eigenen befangenen Individuen bildnerisch Hitchcock zitieren, ist ihre Tanzsprache hochmodern, natürlich, weich und souverän. Ironisch, hart und zart das Stück, kleines Juwel in diesen vier Stunden.

Nach ihnen ist übrigens für die Fans noch lang nicht Schluss. In der Werkstatt nebenan feiern sie zu DJ-Klängen den Abschluss des einwöchigen Festes. Und zu feiern gibt es in der Tat genug – vieles ist den Veranstaltern perfekt gelungen. Der zauberhafte Auftakt in der Stadt. Die atmosphärische Milonga in der Reithalle. Der verstörende Butoh-Abend im Museum für Konkrete Kunst. Die muntere Performance-Nacht wieder in der Reithalle. Nur für den Bühnenabend wünscht man sich fürs Tanzfestival 2013, auf das man sich schon heute freut, wieder ein anderes Ambiente. Damit Tanz und Tanzort besser zueinanderpassen.