Beilngries
Beilngrieser Medizingeschichte(n)

Im Gespräch mit dem passionierten Heimatforscher und früheren Hausarzt Wolfgang Brand

22.05.2020 | Stand 02.12.2020, 11:18 Uhr
Heute ist man froh um das Beilngrieser Seniorenzentrum, das aus dem früheren Krankenhaus entstand. Der Bau einst war allerdings ein heftig umstrittenes Thema. −Foto: Adam/DK-Archiv

Beilngries - In den Jahrzehnten als praktizierender Hausarzt hat Wolfgang Brand selbst einen Teil der Beilngrieser Medizingeschichte mitgeschrieben. Für unsere Zeitung wirft der passionierte Heimatforscher den Blick nun aber deutlich weiter zurück - in die Zeit von Pest, Cholera, Lepra und anderen schlimmen Seuchen. Eines zeigt sich dabei sehr deutlich: Quarantäne und Ansteckungsgefahren beschäftigen die Menschen nicht erst seit Corona.

Es ist ein Gedanke, den man heute nur schwer zulassen kann: Man wird krank. "Siech", wie es einst hieß. Und ohne lange zu zögern, wirft man dich aus deinem gewohnten Umfeld, verbannt dich sogar aus der Stadt. Du kannst, wenn du Glück hast, in einem "Siechenhaus" unterkommen, vor den Toren deiner mittelalterlichen Heimat. Dort, wo alle "Dahinsiechenden", alle Kranken, isoliert werden, damit sie andere nicht anstecken können. Mit Pest, mit Cholera, mit Lepra, mit dem "englischen Schweiß", der "ungarischen Krankheit", der "asiatischen Brechruhr", den schwarzen Blattern. Mit all diesen Krankheiten, für die man damals keine Erklärung hatte, aber schnell einen Schuldigen: Die Juden beispielsweise. Oder die Gestirne am Himmel. Oder Gott, der so seinen Zorn ausdrücken wollte, über die Menschen und ihren schlimmen Lebenswandel. Übernatürliche Kräfte, war man sich sicher, sind im Spiel. Im Schlechten, wenn die Krankheit auftritt. Und im Guten, wenn sie abflaut und ängstliche Bürger verschont bleiben.

"Der Mensch sucht sich eine Begründung, wenn etwas passiert, das er nicht greifen kann. Und damals wusste man halt nichts davon, dass beispielsweise Ratten Krankheiten übertragen können oder wie man sich überhaupt mit etwas ansteckt", erklärt Wolfgang Brand. Der Beilngrieser Mediziner hat stapelweise Unterlagen und fundiertes Wissen über die Medizinalgeschichte von Beilngries gesammelt, über Seuchen und Krankheiten, über noch existierende und bereits abgerissene Gebäude, die mit Krankheiten und ihrer Behandlung einst zu tun hatten. Jahrhunderte scheinbar spröder Beilngrieser Geschichte vermischen sich bei den lebhaften Erzählungen des Heimatforschers zu konkreten Bildern und Szenen.

Wie das Bild vom mittelalterlichen Bader beispielsweise. Ein Medizinalsystem, mit Arzt und Heilberufen, war noch nicht "erfunden" in den Städten oder auf dem Land. Umso gefragter war der "Bader", der eigentlich für die Körperpflege zuständig war. Fließendes Wasser in den Häusern gab es nicht, also ging man regelmäßig zum Bader in die Badestube. Er erhitzte das Wasser, ließ die Leute nach und nach in den großen Holzbottich steigen, der mühsame Wasserwechsel war sicherlich nicht allzu oft. Dabei kümmerte sich der Bader um die kleinen "Leiden" seiner Besucher. Brand kann sich das gut vorstellen: "He, muss der Bader da gesagt haben, während er dem, der grad an der Reihe war, den Rücken schrubbte, was hast du da für eine Schramme, da müssen wir was machen? Und dann versorgte er halt die Verletzung, mal besser mal schlechter. Oder er hörte sich die Klagen über Zahnschmerzen an - und zog den Übeltäter kurzerhand mit der Zange heraus. Kleine Operation konnte er, das wussten die Leute. Der Bader war ein gefragter Mann, dessen Rat und Hilfe gern angenommen wurde." Ein Arzt kam nur selten in die Stadt, die Menschen behalfen sich mit den Ratschlägen von Kräuterweiberln, Gesundbetern - und wer Glück hatte mit der Klostermedizin. "Natürlich wurden auch die Heiligen angerufen, wie der Heilige Sebastian als Retter aus der Pestnot", erklärt Brand. Als Dank wurde dann ein öffentliches Zeichen gesetzt, in Form eines Votivbildes, eines Bildstocks oder gar mit dem Bau einer Kapelle, weil Gott und seine Heiligen das Flehen um Rettung erhört hatten. Eine Tradition, die aus solch einem Hilferuf und dem anschließenden Dank bereits 1634 entstanden ist, ist der jährliche Bittgang der Beilngrieser nach Breitenbrunn zum Pestheiligen Sebastian am Pfingstmontag - der aber heuer aus Coronaschutz-Gründen zumindest nicht in der gewohnten Form als Gruppe stattfinden kann.

Das Beilngrieser Siechen- und Leprosenhaus, in dem die Erkrankten untergebracht wurden, die man aus den Stadtmauern heraus haben wollte, steht heute noch etwas zurückgesetzt rechts neben dem heutigen Seniorenzentrum und ehemaligen Krankenhaus (früher Holz-Fuchs). Das Haus gegenüber wurde bis ins 20. Jahrhundert als Quarantänehaus genutzt. Hier lebten die "Aussätzigen", ohne Hoffnung auf Besserung oder Wiedereingliederung. Sie konnten die Heilige Messe besuchen, aber nicht im Stadtkern, sondern in der Friedhofskirche St. Lucia. Und in dieser Kirche durften sie sogar heiraten, soweit es ihnen ihr Gesundheitszustand erlaubte. Den "Sondersiechen", hat Wolfgang Brand erforscht, war der Aufenthalt bei Zusammenläufen in der Stadt streng untersagt. Ließ sich ein Aufenthalt in der Öffentlichkeit nicht vermeiden, mussten die infektiösen Leprabehafteten mit einer hölzernen Klapper auf sich aufmerksam machen, damit ihnen alle anderen aus dem Weg gehen konnten. Neben dem einstigen Krankenhaus stand wenige Meter weiter gegenüber des heutigen Kinderspielplatzes das "Desinfektionshäusel", das mittlerweile Parkplätzen weichen musste.

Warum gerade am Fuße des Arzbergs entlang der Sulz so viele der Heilstätten in weitestem Sinne entstanden, erklärt Wolfsgang Brand folgendermaßen: "Städtische Einrichtungen, wie eben das Siechenhaus, das Quarantänehaus wurden außerhalb der Stadtmauern, aber eben doch nah an der Mauer errichtet. Aus hygienischen Gründen in aller Regel in der Nähe von Fließgewässern." So konnte man wie schon zu frühesten Zeiten schnell eitrige Bettlaken auswaschen, blutige Verbände säubern. Das Beilngrieser Krankenhaus wurde 1846 fertiggestellt - nach einem langen Kampf der "sturen Beilngrieser", die von der Obrigkeit aus München verdonnert worden waren, ein Krankenhaus zu bauen. Viele Jahre dauerte der Streit und wurde die Fertigstellung hinausgezögert, wie immer es möglich war. Warum? "Die Beilngrieser wollten das Krankenhaus nicht, das auch durch den Bau des König-Ludwig-Kanals erforderlich wurde. Man muss sich das so vorstellen, dass da unzählige Arbeiter am Werk waren, die eben auch krank wurden. Also wurde von der Regierung angeordnet, dass in Beilngries ein Distriktskrankenhaus erstellt werden sollte. Die Beilngrieser hatten keine Lust, sich von denen aus München was vorschreiben zu lassen, sie wollten nicht für Fremde so einen Aufwand betreiben. Letztendlich wurden sie zu ihrem Glück gezwungen", erzählt Brand. Bereits 1838 hatte der Regierungspräsident bei einer Besichtigung den mangelhaften Zustand der Krankenanstalt in Beilngries festgestellt. Ein "neues, besser gelegenes und seinem Zweck mehr entsprechendes Gebäude" wollten die Beilngrieser durchaus daraufhin erstellen, aber eben nur, um den "örtlichen Bedarf zu berücksichtigen". Stadtratsprotokolle und zahlreiche Schreiben aus München erzählen von diesem Disput, bei dem letztendlich mit einer Ministerialentscheidung aus München ein Machtwort gesprochen werden musste, damit die Beilngrieser sich fügten.

Dass der Standort dort gewählt wurde, wo heute das moderne Seniorenzentrum, das aus dem ehemaligen Krankenhaus entstand, steht, hat gute Gründe: "Auch dazu gibt es schriftliche Überlegungen der Stadtverantwortlichen. Von der richtigen Windrichtung, die die schlechten Düfte aus Beilngries schnell abziehen lassen, zum Beispiel. Dass das Krankenhaus am Wasser liegen sollte, war logisch. Hier konnte man die Wäsche gleich waschen, Ausscheidungen, Eiter, Blut direkt schnell aus der Stadt befördern. Der Arzberg liegt sonnig, so trocknete die Wäsche schnell und wurde von der Sonne gebleicht. Es gibt viele Stadtratsprotokolle, die diese Überlegungen belegen."

Der mittelalterliche Bader hatte um diese Zeit schon lange ausgedient. Ein modernes Gesundheitssystem mit fundierter Ausbildung von Chirurgen, Ärzten, Hebammen, die alle einen vorgegebenen Qualitätsstandard bei der Ausbildung einhalten mussten, wurde ab 1806 im Königreich Bayern eingeführt. "Ab 1806 entstand so nicht nur ein öffentliches Gesundheitswesen, sondern auch ein modernes Staatswesen, Industrie wurde gefördert statt Agrarwirtschaft", erzählt Brand. Und ganz sicher gibt es dazu in seinem umfangreichen Archiv ebenfalls viele spannende Geschichten.

DK