Beethoven, Beats, Piazzolla und viel gute Laune

04.07.2021 | Stand 23.09.2023, 19:34 Uhr
  −Foto: Audi

"Let's celebrate music!" - das war die Parole, mit der Festivalleiterin Lisa Batiashvili die Audi-Sommerkonzerte eröffnete. In nur vier Tagen gingen neun Konzerte über die Bühne - mit populären Programmen, einigen Stars, einer Nachwuchshoffnung und großem Spaßfaktor für das Publikum. Nur das letzte Konzert musste ausfallen.

GIORGI GIGASHVILI: Stummer Protest für mehr Musik

Es gibt unterschiedliche Arten, die Zufriedenheit mit einem Konzertabend zum Ausdruck zu bringen. Etwa durch Pfeifen, Johlen und Bravorufen. Oder ? indem das Publikum einfach sitzen bleibt und eine Fortsetzung fordert.
Am Samstagabend also glich das Ende des Konzertabends im Klenzepark eher einem stillen Protest, einem Sit-in der ganz eigenen Art. Die Besucher sahen sich an und konnten nach einer guten Stunde nicht glauben, dass das schon alles gewesen sei. Bis die künstlerische Leiterin Lisa Batiashvili auf der Bühne erschien und fragte, ob die Leute noch mehr hören wollten. Natürlich, sie wollten, was denn sonst.
Schließlich hatte der 21-jährige Giorgi Gigashvili gerade eine fulminante Darstellung des Prokofjew-Klavierkonzerts zusammen mit dem Georgischen Kammerorchester hingelegt. Nun folgte als Zugabe, was sich wohl fast alle sehnlichst gewünscht hatten: Den vorher so vollmundig gelobten Nachwuchskünstler auch mit Solowerken zu erleben. Der Georgier spielte ein Werk seines Landesmannes Gija Kantscheli - süßlich und virtuos, ein wenig salonhaft parfümiert. Und danach einen echten Reißer: den Schlusssatz aus der 7. Sonate von Prokofjew. Gigashvili gab in den ersten Takten Vollgas - um sich dann immer noch weiter zu steigern. So gewaltig hat man diese pianistische Kraftentfaltung selten gehört. Genauso wie das Klavierkonzert. Prokofjews Werk lebt von der Vielfalt der Ideen, der Wendigkeit, der Schnelligkeit, mit der romantische Passagen sich in Sarkasmus verwandeln, Ironie in Tragödie, ungebremste Motorik umschlägt in samtige Melodienseligkeit. Ein unterhaltsamer Parforce-Ritt durch die musikalischen Gefühle ist dieses 1921 uraufgeführte Konzert.
Gigashvili spielt mit den Emotionen, als wäre er für dieses Konzert geboren. Expressivität ist ein zu kleinlicher Begriff für das, was hier passierte: Der Georgier drängte und wütete am Klavier, er streichelte zart die Tastatur und attackierte sie. Ein musikalischer Feuervogel war hier zu erleben, ein Phänomen, eine einsame Hochbegabung.
Entdeckt hat ihn Lisa Batiashvili, die kürzlich extra eine Stiftung gegründet hat, um Nachwuchskünstler zu fördern, wie sie vor dem Auftritt Gigashvilis in einem Interview mit Alexander Mazza erläuterte. Das Publikum bat sie um finanzielle Unterstützung der Lisa Batiashvili Foundation.
Eröffnet wurde der Abend mit Haydn - eine dramaturgisch passende Auswahl. Denn Prokofjew hatte sich selbst immer als ein Nachfahre des Wiener Klassikers betrachtet. Das Georgische Kammerorchester unter der Leitung von Ruben Gazarian musizierte die Sinfonie Nr. 70 hinreißend, mit schlankem Ton und Humor. Vor allem aber ungeheuer analytisch, indem die vielen kontrastierenden Themenpartikel immer wieder mit unterschiedlichen Akzenten und Stricharten voneinander abgesetzt wurden, verzahnt und raffiniert kombiniert. Haydn klang so an diesem Abend ein wenig wie Prokofjew, und Prokofjew wie Haydn.

PHILHARMONIX: Musikalische Seitensprünge

Was bitte soll das eigentlich? Da wird die berühmte "Bohemian Rhapsody" angekündigt - und was bekommt man ausgiebig zu hören? Johann Sebastian Bachs Preludium in C-Dur. Aber dann setzen Geigen und Klarinette ein mit den "Scaramouch"-Rufe, und das klingt dann fast, als wäre dieser Mercury-Bach-Verschnitt nie anders gedacht gewesen.
Urheber dieses seltsamen Arrangements ist die Gruppe Philharmonix, die mehrheitlich aus Mitgliedern der beiden Philharmonien in Berlin und Wien besteht. Die Band gab am Sonntagnachmittag das letzte Konzert der diesjährigen Audi-Sommerkonzerte. Wegen schlechten Wetters ist das Abschlusskonzert mit dem Vokalensemble LauschWerk abgesagt worden.
Die Band ist für die Musiker ein Freizeitvergnügen. Hier haben sie endlich die Möglichkeit, alle Angst vor der Klassik-Geschmacks-Polizei abzustreifen. Erlaubt ist, was Spaß macht.
Die gute Laune überträgt sich, das Publikum lässt sich mitreißen und jubelt ohne Ende.
Bei allem Vergnügen - die Musiker spielen auf höchstem Niveau. Alle Arrangements haben sie selbst geschrieben. Dabei tun sie das, was Profimusikern ohnehin leicht fällt. Sie kennen soviel Repertoire, dass sie beim Improvisieren oft übergangslos von einem Werk zum nächsten überleiten. Was das Publikum zu hören bekommt, ist dann eine Art langer Musikertraum, ein surrealer Irrlauf durch Themen und Motive, von Klassik bis Swing, von Pop bis Volksmusik.
Die Kenner stolpern dabei alle paar Augenblicke über raffinierte Anspielungen, gewagte Zitate; alle anderen lassen sich von der Spielfreude mitreißen. Der Witz kennt kaum Grenzen: Da wundert man sich, was für einen Swing man aus den Themen aus Beethovens 7. Sinfonie herausdestillieren kann. Oder man ist verblüfft, wie russisch die Melodie des Computerspiels Tetris klingt. Ein Ungarischer Tanz von Johannes Brahms wird zum wildgewordenen Csárdás. Und fast schon berührend ist das Requiem auf Falco mit vielen Mozart-Anspielungen. Da wird dem Publikum fast schon schwindelig bei so viel Eulenspiegeleien der Extraklasse.

LISA BATIASHVILI: Italienische Momente des vollkommenen Glücks

Sie sind selten, aber es gibt sie: Momente reinen Glücks im Open-Air-Konzert. Solche Augenblicke konnten die Besucher des wohl wichtigsten Konzertes der diesjährigen Audi-Sommerkonzerte am Freitagabend im Ingolstädter Klenzepark erleben. Und zwar genau dann, als Lisa Batiashvili den Bogen auf die Saiten ihrer Geige legte und ganz zart vor dem Tremolo der gedämpften Violinen das Hauptthema des ersten Satzes aus Jean Sibelius' Violinkonzert anstimmte. Ein Moment war das, in dem alles, was Freiluftkonzerte zu bieten haben, miteinander verschmolz: das goldene Licht der untergehenden Sonne, das sich über dem Rasen ergoss und sich mischte mit unfassbar intensiven Tönen der Geigerin, während im Hintergrund die Geräusche des Alltags verklangen.

Das Sibelius-Konzert ist das Paradepferd im Repertoire der georgischen Geigerin und künstlerischen Leiterin der Audi-Sommerkonzerte. Das Konzert steht am Anfang ihrer internationalen Karriere, als sie 16-jährig 1995 als jüngste Teilnehmerin den 2. Preis des Internationalen Jean-Sibelius-Wettbewerbs gewann. Seitdem ist sie unzählige Male mit dem Konzert auf Tour gegangen, zweimal hat sie es sogar im Abstand von rund zehn Jahren auf CD aufgenommen, zuletzt mit Daniel Barenboim als Dirigenten.

Tatsächlich ist der glühende Klang, die Leidenschaft des Einsatzes kaum überbietbar. Wenn die Georgierin im Adagio auf der G-Saite das endlos lang sich aufbauende Thema in einem gewaltigen Solo spielt, dann scheint der Klang ihrer Geige schon fast nicht mehr irdisch zu leuchten, sondern eine dunkle Farbe zu erzeugen, die kaum mehr nach Violine klingt. Und besonders im Schlusssatz hängte sich Batiashvili noch einmal richtig rein zu einem virtuos aufschäumenden Finale. Das alles wäre aber kaum so eindrucksvoll, wenn nicht das hervorragende Orchestra dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter der Leitung von Sir Antonio Pappano einen so wuchtigen und selbstbewussten Widerpart zum Violinspiel der grandiosen Geigerin geboten hätte. Ja, Pappano ist ein Hochdruckmusiker, der seine Musiker dazu antreibt, alles zu geben.

Das war auch bei Beethovens 7. Sinfonie zu spüren, in der Pappano manchmal (etwa im langsamen Satz) schon frühzeitig sehr viel Druck machte, sodass am Ende das Orchester kaum mehr Reserven für Steigerungen hatte. Hinreißend aber der Schlusssatz mit seiner tänzelnden, sogartigen Rasanz.

Eröffnet wurde das Konzert mit Gioacchino Rossinis "Wilhelm Tell"-Ouvertüre", einem Werk, in dem ein Orchester alles zeigen kann, was es kann: kammermusikalische Delikatesse am Anfang, agile Leichtigkeit in der Mitte und reißerische Dynamik zum Schluss. Alles gelang hinreißend an diesem Abend - genauso wie beim Fußball, wo die italienische Mannschaft bestes Fußball bot gegen die Belgier. Glückliche Momente für alle.

PAUL VAN DYK: Festung der Einsamkeit

Noch haben die Clubs geschlossen, also eröffnet DJ und Musikproduzent Paul van Dyk kurzerhand seinen eigenen mittels Livestream gleich für die ganze Welt. Und was für eine spektakuläre Location das ist. Die EMV-Halle von Audi, in der sonst die elektromagnetische Verträglichkeit von Fahrzeugtechnik geprüft wird, mutet fantastisch und futuristisch an. Mit von der Decke hängenden und von den Seiten in den Raum ragenden, gleichförmigen stalaktitenartigen Elementen wirkt sie fast wie Supermans Festung der Einsamkeit. Allein am DJ-Pult, beleuchtet von diversen aufgestellten Strobos, Spots und Neonleuchten zieht Paul van Dyk an den Laptops, Screens, Reglern und Knöpfen sein Ding und ein einstündiges Set durch. Die coolen Sounds zwischen Trance und Dance gehen von anfänglicher, beinahe sinfonischer Anmutung dabei zusehends in Richtung Rave und Party. Immer glücklicher und grinsender geht van Dyk zu seinen Beats, Pitches und Rhythmen auf und mit. Meist inszeniert er spannende, repetitive und eingängige Klangstrukturen ohne Gesang, aber es schleichen sich auch Stücke mit Vocals ein wie am Ende "Guiding Light", das Titelstück seines 2020er-Albums. Danach verbeugt sich der in Eisenhüttenstadt geborene Tonkünstler vor dem globalen Publikum und schließt den Club vorläufig wieder.

AUDI-BLÄSERPHILHARMONIE: Stadionfeeling

In bewundernswert herausragender Verfassung zeigte sich die Audi-Bläserphilharmonie bei ihrem Auftritt am Samstagvormittag im Klenzepark. Nach langer Proben- und Konzertpause focht sie unter Leitung von Chefdirigent Pietro Sarno bestens aufgelegt "Eine musikalische Europameisterschaft" aus, die ihrem Motto alle Ehre machte. Aus aktuellem Anlass hatten fast alle Werke oder Komponisten des abwechslungsreichen Programms Bezug zum Fußball. So kam Dmitri Schostakowitsch als leidenschaftlicher Fan dieser Sportart zu Wort mit Ausschnitten aus seiner revuehaften "Suite für Varieté-Orchester", Verdis Triumphmarsch aus "Aida" erklang als Paradebeispiel für die Einlaufmusik vieler Mannschaften, und die in unterschiedlichsten Klangsphären schillernde "Welcome Ouvertüre" repräsentierte den symbolischen Willkommensgruß an das saudi-arabische Team bei der WM 2006. All das musizierte die Bläserphilharmonie in mitreißend rhythmischer Präzision, setzte farbig-feine Soundeffekte, dynamisch fließende Übergänge, kreierte wirkungsvolle Steigerungen und fulminante Schlusspunkte. Zugleich erwies sich das Amateur-Blasorchester als stilistisch äußerst wandlungsfähiger Klangkörper zwischen Militärmusik, Klassik, Rock oder Jazz. Dabei nicht fehlen durften natürlich Fußball-Kultlieder wie die aus dem stimmungsanheizend-schrägen "Stadium Fever", zu denen sich die johlenden Musiker, mit Trillerpfeifen bewaffnet, demonstrativ die Trikots und Schals ihrer Lieblingsvereine überzogen, sowie das swingende "Football's Coming Home" und die pulsierende "Liverpool Sound Collection". Da konnte die quirlige Moderatorin Sarah Willis (Hornistin bei den Berliner Philharmonikern) nicht mehr anders, als sich ein Instrument zu organisieren und selbst mitzuspielen. Das begeisterte Publikum erklatschte sich zwei Zugaben: "We Are The Champions" von Queen und - wie könnte es anders sein - die Schanzer Hymne.

BR-SYMPHONIKER: Klassische Tangos

Das Konzept der Nachbarschaftskonzerte wird bei Audi immer wieder neu interpretiert: Ursprünglich handelte es sich um Hauskonzerte, im ersten Corona-Jahr wanderten notgedrungen die Veranstaltungen ins Freie und heuer: wird Kammermusik den Auflagen entsprechend im Turm Triva geboten. Damit verliert die wunderbare Reihe natürlich ein wenig an Charme. Ein Matinee-Konzert Piazzolla zu Ehren hat dennoch seinen Reiz, besonders wenn so munter musiziert wird wie von den Musikerinnen des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks.
Das Quartett entschied sich, Astor Piazzolla, der vor 100 Jahren zur Welt kam, mit einem Mozart-Werk zu kombinieren, dem "Jagdquartett". Die beiden Komponisten haben wenig miteinander zu tun, sie bilden also einen schönen Kontrast. Piazzollas Tangos leben vom schmachtenden Klang, vom rhythmischen Drive, von den herben Attacken. Alle Tangos haben letztlich das gleiche Grundmuster bei dem Argentinier - und sind doch oft grundverschieden. Die vier BR-Musikerinnen lieben den süßlichen vibratotriefenden Sound genauso wie die quietschenden Glissandi bei "Four for Tango". Dabei wechseln erste und zweite Geigerin ihre Plätze, offenbar je nach Temperament der Musikerinnen. Der Mozart dagegen entwickelt gerade im Adagio eine Lyrik ganz anderer Art: Feines Linienspiel, klassisch geflochten und verziert.

Jesko Schulze-Reimpell, Martin Buchenberger, Heike Haberl