Bange Minuten zum Olympia-Ende

Ein verirrtes Flugzeug löste 1972 bei der Abschlussfeier Terror-Alarm aus – zwei Starfighter machten sich auf die Jagd

10.09.2012 | Stand 03.12.2020, 1:05 Uhr

 

Neuburg (DK) Den Abend des 11. September 1972 wird Hans-Dieter Handrich nie vergessen: „Es ist, als wäre es gestern gewesen.“ Er ist damals 23 und arbeitet als militärischer Fluglotse auf der südlich von Neuburg gelegen Basis Zell.

Hier ist das Jagdgeschwader 74 stationiert. Der junge Feldwebel sitzt gerade auf seiner Stube und schaut sich die Abschlussfeier der Olympischen Spiele im Fernsehen an. Plötzlich hämmert es an der Tür. Ein Kamerad stürmt herein, völlig außer Atem. „Wir müssen schnell rüber. Die Alarmrotte geht raus!“

Was war passiert? Man hatte ein nicht identifizierbares Flugzeug entdeckt, das sich offenbar auf München zubewegte. Nach dem Anschlag auf das israelische Olympia-Team rechnete man jetzt mit allem. Die Verantwortlichen befürchteten, dass es sich eventuell um einen erneuten Terror-Angriff handeln könnte. Womöglich könnte aus dem Flieger eine Bombe auf das Stadion abgeworfen werden.

Mit dem Auto rasen sie die knapp vier Kilometer von den Unterkünften hinüber zum Tower. Hektisch berichtet der Kamerad, es habe einen Anruf gegeben. Der Verteidigungsminister Georg Leber (SPD) sei am Telefon gewesen und habe mit Gerhard Mohrdieck, dem Kommodore des Geschwaders gesprochen. Leber habe die Anweisung gegeben, die Alarmrotte aufsteigen zu lassen.

Kurz darauf hetzen die beiden die Stufen des Towers nach oben. Der Kollege von der Nachtschicht ist gerade dabei, die Abflugdaten von der Jägerleitstelle in Freising aufzunehmen. Da bittet der Rottenführer auch schon per Funk um Rollfreigabe. Die zwei Starfighter vom Typ F 104 G sind bereit. Sie warten mit voll bestückter sechsläufiger Bordkanone und zwei Sidewinder-Raketen an den Flügelaußenspitzen. Die Bordelektronik ist vorgewärmt, um einen Start der von der Nato vorgegebenen Zeit von 15 Minuten zu gewährleisten.

Handrich teilt den Piloten Windrichtung und -stärke mit. Dann kommt schon die Startfreigabe. Die Jäger donnern über den Asphalt und heben ab. Handrich schaut dem Feuerschweif der Nachbrenner am Nachthimmel hinterher. So ein ernster Alarmstart ist etwas seltenes. „In meinen 20 Jahren in Neuburg ist das höchstens fünf- oder sechsmal passiert.“

Auf der Funkfrequenz mit dem Codenamen „Gold Seven“, hört er die Funksprüche der Piloten mit, als sie über dem Olympiastadion kreisen. Alle paar Minuten berichtet einer der beiden Starfighter von einer Sichtung. „I have a lock-on“, tönt es dann aus dem Lautsprecher. Doch immer kommt kurz darauf die Entwarnung. Das vermeintliche Ziel entpuppt sich als Polizei- oder Bundesgrenzschutzhubschrauber.

Bevor es wirklich ernst wird, kommt die Entwarnung: Der Pilot der unbekannten Maschine meldet sich. Wie sich herausstellt, handelt es sich um eine finnische Maschine, besetzt mit rund 100 Passagieren. Die Technik an Bord war ausgefallen, so hatten sich die Piloten verirrt. Die beiden Starfighter drehen ab und kehren zur Basis nach Zell zurück.

Dass die finnische Passagiermaschine einfach aus Panik von den Starfightern abgeschossen worden wäre, wie oft vermutet wird, glaubt Handrich nicht. „Das hätte kein deutscher Pilot gemacht.“ Denn auch, wenn der Funk ausgefallen ist, gibt es sogenannte Interceptor-Signale, mit denen ein Jäger einem Flugzeug signalisieren kann, dass es landen soll. Er wackelt dann mit den Tragflächen und fährt das Fahrwerk aus.

„So dramatisch, wie es oft dargestellt wird, war es nicht“, sagt der heute 63-Jährige. Für ihn ist etwas ganz anderes an der Geschichte pikant. Denn eigentlich war Verteidigungsminister Leber gar nicht befugt, die Alarmrotte einzusetzen. Denn sie untersteht der Nato-Luftverteidigung. „Es war trotzdem die richtige Entscheidung“, sagt Handrich. „Unabhängig davon, ob er das jetzt durfte oder nicht.“

Den Verantwortlichen war wohl trotzdem unwohl: Im Nachhinein deklariert man den ernsten Einsatz (Alpha-Scramble) zu einem Tango-Scramble um – also einem Übungsflug.