Ingolstadt
"Aus groben Eigennutz in großem Ausmaß"

Mit Scheinselbstständigen sollen Vater und Tochter aus einer regionalen Baufirma einen Millionenschaden verursacht haben

04.09.2018 | Stand 23.09.2023, 3:59 Uhr
Die Angeklagten sind in der Trockenbaubranche aktiv. Seit gestern müssen sie sich am Landgericht verantworten. −Foto: dpa

Ingolstadt (DK) Ein Staatsanwalt hat es auch nicht immer leicht.

Besonders in vertrackten Wirtschaftsverfahren kann die Sammlung der Aktenordner in unfassbare Größenordnungen anschwellen und die Anklageschrift ebenso außergewöhnliche Ausmaße annehmen. Und so musste Ingo Desing von der Ingolstädter Staatsanwaltschaft gestern bei der Verlesung der Anklage mehr als eine halbe Stunde alleine darauf verwenden, die Namen der Gesellschaften und der Gesellschafter von 210 Gesellschaften des bürgerlichen Rechts (GbR) vorzutragen. Damit wird die Dimension des Prozesses deutlich, mit dem es die Justiz und besonders die 1. Strafkammer des hiesigen Landgerichts aktuell zu tun haben.

Seit gestern wird dort gegen einen 66-Jährigen und seine 47-jährige Tochter verhandelt, die mit offenbar erheblicher krimineller Energie auf dem Bausektor unterwegs waren. Ihrer im Jahr 2009 im Raum Ingolstadt gegründeten Firma für Trockenbau sollen unzählige weitere Gesellschaftsgründungen gefolgt sein. Die Staatsanwaltschaft hat, wie erwähnt, 210 GbRs in ihrer Anklage aufgeführt.

Eine GbR-Gründung freilich ist alles andere als illegal, sondern ein höchst normaler Vorgang im Geschäftsleben. Allerdings sollen Vater und Tochter mit den Gesellschaften eben einen alles andere als legalen Hintergrund verfolgt haben: Die vielen ausländischen Fach- und Hilfsarbeiter, welche nach Auffassung der Staatsanwaltschaft für die Trockenbaufirma auf den Baustellen unterwegs waren, wurden in eigenen Firmen organisiert. De facto seien sie nichts anderes als Scheinselbstständige gewesen, ist die Staatsanwaltschaft überzeugt.

So konnten sich Vater und Tochter die Sozialversicherungsbeiträge sparen und umgingen auch den vorgeschriebenen Facharbeiter-Mindestlohn. Dabei lief eine außerordentlich hohe Summe auf, die sich laut Ankläger Desing "deutlich von der Schadenshöhe gewöhnlich vorkommender Fälle abhebt". Satte 3,34 Millionen Euro an Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen sollen in dreieinhalb Jahren (zwischen Mitte 2009 und Ende 2012) vorenthalten worden sein. Alleine für die Bahn-BKK wäre laut Anklage eine Summe von 3,1 Millionen Euro fällig gewesen. "Aus groben Eigennutz in großem Ausmaß" hätten die Angeklagten gehandelt, sagt Desing.

Das weisen Vater und Tochter aber zurück. In einer Verteidigererklärung für beide trug Rechtsanwalt Matthias Schütrumpf vor, dass die Tatvorwürfe bestritten werden. Alle seien selbstständige Auftragnehmer gewesen, nicht in die Trockenbaufirma der Angeklagten integriert und hätten sich selbst organisiert. Weitere Angaben wolle man zum jetzigen Zeitpunkt nicht machen, auch Nachfragen des Gerichts werde man nicht beantworten - was das gute Recht von Angeklagten ist.

Allerdings kam gestern doch etwas Bewegung in die Sache, ehe der Strafkammer eine aufwendige Beweiserhebung drohte. Bei einem Rechtsgespräch machte Landgerichtsvizepräsident Jochen Bösl den Verteidigern deutlich, wie er die Sache nach Aktenlage bewertet. Denn zu 14 der 210 in der Anklage aufgeführten Gesellschaften liegen dem Gericht die Zeugenaussagen der vornehmlich ungarischen und rumänischen Arbeiter vor, die dort organisiert waren. "Da liegt die Annahme der Scheinselbstständigkeit nahe", sagte Bösl offen. Heißt: Für diese Fälle stünde eine Verurteilung der leugnenden Angeklagten für die Kammer klar im Raum.

Zu den anderen Gesellschaften könnte man nun aufwendig weitere Arbeiter im Prozess befragen, für den vorsorglich sieben Verhandlungstage angesetzt sind. Mehr als 30 Aktenordner stehen auf einem Rollregal hinter Richter Bösl bereit. Die Kammer und die Staatsanwaltschaft könnten sich aber grundsätzlich vorstellen, die Anklage auf die erwähnten 14 belegten Fälle zu beschränken und den Rest dann einzustellen. Voraussetzungen wären vollumfängliche Geständnisse der Angeklagten bezüglich der 14 Gesellschaften. Im Gegenzug könnten dann Vater und Tochter (wegen der auch deutlich geringeren Schadenssumme) mit Bewährungsstrafen rechnen, so Bösl. Als Reaktion erhielt er von den Verteidigern: So könnten sie sich das grundsätzlich auch vorstellen.

Noch ist aber alles Theorie. Wie hoch die Summe der vorenthaltenen Beiträge, also der Schaden, bei diesem Vorgehen letztendlich wirklich ausfallen würde, das muss eine Expertin der Rentenversicherung erst genau berechnen. Vorher können die Prozessbeteiligten den Deal nicht weiter aushandeln oder gar abschließen.

Sollte er zustandekommen, ersparen sich alle Seiten aber ziemlich viel Zeit vor Gericht. Zumal ohnehin schon viele Monate ins Land gegangen sind. Die Anklage der Staatsanwaltschaft stammt aus dem Juni 2014. Wegen der starken Belastung der 1. Strafkammer kommt das Verfahren erst jetzt am Landgericht dran.

Christian Rehberger