Interview
Aufruhr im Korallenriff

Meeresbiologin Frauke Bagusche beschreibt die Lebenswelt der Ozeane

11.06.2019 | Stand 02.12.2020, 13:45 Uhr
"Das Meer ist noch immer ein großes Mysterium", sagt Frauke Bagusche und trägt mit ihrem Buch "Das blaue Wunder" dazu bei, dass der Leser die Welt unter Wasser ein wenig besser versteht. Hier sind Clownfische in ihrer Anemone zu sehen. −Foto: Bagusche, Honk

Die Meeresbiologin Frauke Bagusche hat mit "Das blaue Wunder" ein spannendes Buch über die Lebenswelt der Ozeane geschrieben. Wie sehr der Mensch diese bedroht, kann dabei nicht ausbleiben. Im Interview spricht die Autorin über Nemos wahre Geschichte, geschwätzige Heringe und über die Vermüllung der Meere.

München (DK) Am liebsten schwimmt sie mit einem Mantarochen. "Es gibt unter Wasser kaum ein eleganteres Wesen", findet Frauke Bagusche. Die Meeresbiologin erforscht die Lebensräume der Ozeane und stellt diesen faszinierenden Kosmos in ihrem Buch "Das blaue Wunder" vor.

Frau Bagusche, eigentlich ist es ein schöner Gedanke, dass wir überall Meeresluft atmen.
Frauke Bagusche: Es riecht nur nicht überall so gut, und die Luft ist auch nicht überall so heilsam. Aber es stimmt schon, die marinen Mikroalgen produzieren 50, wenn nicht sogar bis zu 80 Prozent des globalen Sauerstoffs. Deshalb verdanken wir mindestens jeden zweiten Atemzug dem Meer.

Als Landratte hat man eher den Wald im Kopf.
Bagusche: Das ist auch richtig, aber die Ozeane liefern mehr Sauerstoff. Natürlich beschäftigen wir uns vor allem mit dem, was wir an Land vor uns haben. Das Meer ist immer noch ein großes Mysterium, und damit verbunden sitzen viele Vorurteile und Ängste in unseren Köpfen.

Wir haben noch ganz andere Irrtümer im Kopf wie das Märchen von den stummen Fischen.
Bagusche: Dabei kann deren Lautäußerung sogar sehr lustig sein: Heringe, die im Schwarm leben, unterhalten sich nämlich über Fürze. Aus der Schwimmblase lassen die Tiere Luft über den Rektalbereich ab. Wenn ein Raubfisch daherkommt, müssen die Kollegen schließlich informiert werden. Ich bin übrigens selbst schon von einem kleinen Nemo angeknurrt worden, als ich zu nahe an die Anemonen kam. Das war eine klare Drohgebärde.

Mit Nemo sind die Clownfische sehr populär geworden.
Bagusche: Das hat leider dazu geführt, dass viele davon Nemos Schicksal ereilt hat und sie für den Verkauf in Zoohandlungen gefangen wurden. Wobei die rührende Geschichte in der Realität einen ganz anderen Dreh hätte.

Wie wäre die Geschichte korrekt?
Bagusche: Nemos Mutter wird doch von einem Barrakuda verspeist und lässt Vater und Sohn alleine zurück. Davon ausgehend würde der Vater mit der Umwandlung zum Weibchen beginnen, und Nemo sich parallel zu einem fortpflanzungsfähigen Männchen entwickeln. Da Nemo nun aber das einzige geschlechtsreife Männchen weit und breit ist, paaren sich die beiden und zeugen inzestuösen Nachwuchs. Stirbt Nemos Partnerin, die ja zuvor sein Vater war, entwickelt er sich zum Weibchen und geht auf Suche nach einer Partnerin. Das würde allerdings nicht ins Schema einer Disney-Kindergeschichte passen.

Es geht auch sonst ziemlich wild zu im Meer. Man liest bei Ihnen von Vergewaltigungen und Prostitution.
Bagusche: Und das betrifft ausgerechnet Publikumslieblinge wie Pinguine und Fischotter. Bei den kleinen Adeliepinguinen am Südpol ist Prostitution gang und gäbe.

Aber was hat ein Tier davon, wenn es sich prostituiert?
Bagusche: Gutes Nistmaterial zum Beispiel, das Ei muss ja sicher aufliegen - etwa auf einem erhöhten Nest aus Kieselsteinchen. Das ist die heißeste Währung am Südpol. Und dafür geht Frau Pinguin schon mal fremd ganz am Rande der Pinguinkolonie. Denn da leben die Junggesellen, die keine abbekommen haben. Durch einen kecken Tanz sind die Singles mit ihrer angestauten sexuellen Energie leicht zu bezirzen. Ist der Akt vollzogen, schnappen sich die Weibchen einen Kieselstein. Die Männer sammeln sie ganz bewusst an, weil sie wissen, dass es dafür Sex gibt. Es wurden auch schon Pinguindamen beobachtet, die ohne Sexarbeit mit dem Stein abgezogen sind - zum Lebenspartner, der treu und brav das Ei hütet.


Wie sieht es mit dem Zusammenleben im Korallenriff aus?

Bagusche: Oh ja, da gibt es ganz erstaunliche Formen des Zusammenlebens oder der Symbiose. Man darf sich so ein Riff als wuselige Großstadt vorstellen mit Krankenhaus und allem Drum und Dran. Wir sprechen auch von der Kinderstube der Ozeane. Korallenriffe bedecken zwar weniger als ein Prozent des Meeresbodens, aber sie dienen einem Viertel der Fische weltweit als Lebensraum, und sie sind allein durch ihre immense Artendichte unglaublich produktiv. Von der Mikroalge bis zum großen Mantarochen finden die Tiere im Korallenriff alles, was sie brauchen.

Und was hat es mit dem Krankenhaus auf sich?
Bagusche: In tropischen Gewässern findet man häufig Blaustreifenputzerlippfische, die sind etwa zehn Zentimeter groß und bieten ihre Dienste an. Ich habe regelmäßig beobachtet, wie Fische am Riff auf ihre Behandlung warten, also darauf, von Parasiten befreit zu werden oder Wunden verarzten zu lassen.Wie darf man sich das vorstellen?
Bagusche: Die Putzerfische fressen Wundränder sauber oder zupfen die Parasiten aus den Schuppen. Dabei würden sie lieber den Schleim und die frischen Schuppen abfressen. Genau das mögen die Kunden natürlich nicht, das tut weh. Doch für den Putzerfisch ist Kundenpflege alles, deshalb machen sie brav ihren Job, obwohl sie das gar nicht so gerne tun. Das Ganze wird ja auch noch von anderen Kunden beobachtet, der Druck ist also groß, einen guten Service zu bieten, weil die Fische sonst zur Konkurrenz abwandern.


Leider werden immer mehr Korallenriffs zerstört. Darauf weisen auch Margaret und Christine Wertheim mit ihren kunstvoll gehäkelten Korallenriffen hin, die jetzt auf der Biennale in Venedig zu sehen sind.

Bagusche: Interessanterweise sind die Korallen der Wertheim-Schwestern auch noch aus recyceltem Kunststoff gefertigt, also aus dem Material, das für Korallen und überhaupt Meerestiere so gefährlich ist. Wir machen uns das immer noch nicht wirklich klar: Viele tropische Inseln werden von Riffen geschützt. Fehlen sie, können Sturmfluten quasi ungehindert über die Inseln fegen. Die Süßwasserreservoirs versalzen, Obst- oder Gemüseanbau ist dann nicht mehr möglich.

Was setzt den Korallenriffen am meisten zu?
Bagusche: Wenn das Wasser zu warm wird, kommt es zum Korallensterben. In den Korallen wohnen Algen, die sie mit Nährstoffen versorgen. Steigen die Temperaturen durch die Klimaerwärmung, fangen die Algen an, Toxine zu produzieren. Um nicht vergiftet zu werden, stoßen die kleinen Korallenpolypen die Algen ab. Ohne deren Nährstoffe können die Korallen aber nur einige Tage überleben, dann sterben sie ab und bleichen aus. Das sind dann weiße Kalkskelette, die keinen Lebensraum mehr für Fische und andere Tiere bieten können.

Das gleiche Desaster ist die Vermüllung der Meere. Gibt es überhaupt einen Ausweg?
Bagusche: Der Müll, der jetzt schon da ist, hat sich längst in die Tiefsee abgesetzt, da ist wohl nichts mehr zu machen. Aber wir haben natürlich in der Hand, den Plastikmüll zu dezimieren. Jede Minute landet derzeit eine Müllwagenladung im Meer, das meiste kommt über die Flüsse in die Ozeane. In Australien werden schon Netze entwickelt, die das auffangen, und auch andere Initiativen wie der "Ocean Cleanup" beschäftigen sich damit. Aber da ist noch viel Forschung nötig, denn diese Techniken bedeuten natürlich auch Eingriffe in die verschiedenen Lebensräume.

Und Mikroplastik?
Bagusche: Wir haben leider keine Chance, das omnipräsente Mikroplastik jemals aus der Erde oder aus den Gewässern zu bekommen. Da helfen nur Verbote und bessere Filteranlagen. In der Kosmetik kann man darauf wirklich verzichten, die Industrie hat da zum Teil schon reagiert. Schwieriger wird es etwa beim Abrieb von Autoreifen oder bei Kleidung aus Kunstfasern. Bei jeder Wäsche gehen Fasern mit dem Wasser ab.

Das macht nicht gerade hoffnungsvoll.
Bagusche: Man darf sich aber auch nicht entmutigen lassen. Wenn Sie Ihr Leben komplett ändern, sind Sie schnell überfordert und geben auf. Mir geht es ja nicht anders. Es ist besser, ein paar schlechte Gewohnheiten abzulegen und nachhaltiger zu leben. Wenn das viele tun, kommt am Ende etwas Gutes dabei heraus.

Unsere Zukunft scheint im Meer zu liegen.
Bagusche: Anders: Ohne funktionierendes Meer gibt es für den Menschen keine Zukunft. Neben der Produktion von Sauerstoff bestimmen die Ozeane das Weltklima, und sie geben uns Nahrungsmittel. Das wahre Potenzial an gesundheitsfördernden und vor allem heilenden Substanzen kennen wir noch gar nicht. Die Abwehrstoffe von Schwämmen könnten zum Beispiel im Kampf gegen den Krebs eine ganz entscheidende Rolle spielen. Das Meer zu schützen, kann also nur in unserem ureigenen Interesse liegen.

Die Fragen stellte Christa Sigg.

ZUR PERSON
Die 40-jährige Meeresbiologin aus dem Bergischen Land hat nach ihrer Promotion über Austern an der University of Southhampton in England meeresbiologische Stationen auf den Malediven geleitet. Fast 10000 Kilometer ist sie von der Karibik durch den Atlantik gesegelt, um auf die Vermüllung der Ozeane aufmerksam zu machen. Bagusche hält Vorträge und Schulungen zu Themen rund ums Meer.

Frauke Bagusche: "Das blaue Wunder", erschienen im Ludwig Verlag, 320 Seiten, 22 Euro.