Auf den Hund gekommen

11.10.2010 | Stand 03.12.2020, 3:35 Uhr

 

München (DK) Prinz Poldi und Karlotta – sind sie nicht süß? Sechs schwanzwedelnde Darsteller haben sofort die Lacher auf ihrer Seite, als der Vorhang sich am Premierenabend von "Der Ruf der Wildnis" hebt – ein Lachen, das dem Großteil des Publikums im Laufe des Abends vergehen wird.

Dabei gilt doch von jeher die Theaterregel, dass bei der Mitwirkung von Tieren und Kindern kein Stück mehr wirklich gefährlich werden kann, weil diese Darsteller durch natürlichen Charme siegen! Der lettische Regisseur Alvis Hermanis, in München bereits beim Spielart Festival vertreten, hat die Hunde-Parabel des Amerikaners Jack London durch sechs Lebensgeschichten von realen Hundebesitzern erweitert, die von den Schauspielern recherchiert wurden. Sie porträtieren in ihren selbst geschneiderten Rollen Menschen, die alleine mit ihrem Hund leben. Völlig unterschiedliche, einander nicht verbundene Individuen finden sich dabei zum Interview ein, jeder auf seinem eigenen Sofa, den hechelnden Partner an der Seite.
 
Ihre Lebensgeschichten ufern aus, entwickeln eine eigene Dramatik und Relevanz, die den Roman ganz verdrängt. Höchstens ein Achtel des Textes stammt von Jack London bzw. dessen deutschen Übersetzer, den Rest schrieb das wahre Leben – beziehungsweise die Schauspieler des Ensembles.

Der Zuschauer gerät so in die Position des Voyeurs, des Therapeuten, des Klatschjournal-Junkies und taucht ein in das Wechselbad des Menschelns: Hier der Architekt (Walter Hess), dem über der Arbeit seine Familie ganz aus dem Auge geraten ist und der jetzt alleingelassen mit seinem Hund darüber nachdenkt, dem zweiten Mann seiner Frau eine Niere zu spenden. Dort die Zuckerschnecke mit dem schmalen Geldbeutel (Katharina Marie Schubert), die immer ein verlassenes Scheidungskind bleiben wird und ältere Herren im Café beschwindelt, um an einen warmen Kaffee zu kommen. Es gibt die eisenharte Witwe (sagenhaft überzeugend in der Frauenrolle: Kristof Van Boven), die sich endlich gönnen kann, auf der rechten Sofaseite zu sitzen, jetzt wo sie auch mal ihren Spaß haben darf, und den Diensthunde-Führer (Thomas Schmauser), der eine Waffe an der Leine als Gegengewicht zu seinem verkorksten Frührentnerleben sucht.

Irgendwie passt schließlich alles gar nicht so schlecht zusammen und schlägt eine inhaltliche Brücke zum titelgebenden Roman, schließlich ist ja auch "Homo homini lupus" – der Mensch unter den anderen Menschen ein Wolf – wie Plautus befand. Kaum haben nämlich die Vierbeiner die Bühne verlassen und die Menschen ihren Seelenstrip über die Startrampe getrieben, geht der Abend in eine Show von Grausamkeit und Selbstentblößungen über.

Wie der Schlittenhund Buck durch seine "Abrichtung" gebrochen und ins Geschirr gezwungen wird, sind auch die vereinsamten Hundebesitzer Opfer ihrer Umstände.

Umstände, die man freilich auch "Leben" nennen könnte. Die Sofas (Ausstattung Rudolf Bekic) bleiben nicht lange auf ihrem Platz, wenn sich Hunde- und Menschenleben weiterspinnen wie lange, verwirrte und verknotete Fadenstränge einer aus dem Takt geratenen Webmaschine. Die behaglichen Sitzpolster werden zerstört, zerschlitzt, Füllstoffe fliegen und stellen arktische Schneefälle dar, Kissen werden zu Sexualpartnern und aufgeschlitzten Gedärmen, Möbel zu Höhlen – Fetzen der Auflagestoffe verdecken Leichen.

Wenn der halbentblößte Benny Claessens als Buck hechelnd und robbend erbärmlich um sein Leben winselt, wenn Walter Hess als alter Schlittenhund nicht mehr aus dem Geschirr zu lösen ist und elendig darin krepiert, dann ist das Ekeltheater, wie man es von Gosch oder Schlingensief kent, aber in den Stilmitteln ganz anders. Niemand ist nackt, weder Kunstblut noch synthetische Bühnenfäkalien werden verschmiert und trotzdem seien empfindsame Gemüter gewarnt.

Schauspielerisch ist diese Kasteiung höchst erfolgreich – sie funktioniert wie ein Ausbrennen altgewohnter Manierismen und Bequemlichkeiten. Regisseur Alvis Hermanis machte aus den Schauspielern für diesen Abend ein überzeugendes Ensemble – aus verwöhnten Schoßhündchen ein wildes, gefährliches Rudel.