Auf dem Pferderücken gibt’s das unverkrampfte Leben

24.08.2007 | Stand 03.12.2020, 6:32 Uhr

Thommy bei der Delfintherapie im Sommer 2006 in Florida.

Hollenbach (DK) "Hilfst du mir striegeln, Thommy?" Reittherapeutin Nicole Breitner fährt sanft mit dem Striegel über die Arme des Jungen, dann darf er die Isländerstute Aleiga striegeln. Zusammen mit der Therapeutin, denn allein ist Thommy hilflos.

"Er ist gefangen in seinem Körper", sagt Andrea Brandner über ihren Sohn. Thomas ist zehn Jahre alt und schwerstbehindert. Durch Sauerstoffmangel in den letzten Wochen vor seiner Geburt leidet er an spastischer Lähmung. Das heißt, seine Gliedmaßen gehorchen ihm nicht, sondern befinden sich mehr oder weniger im Dauerstreckzustand. Der erste schwere Schlag für die Familie aus Hollenbach. "Er wird sich nicht so schnell wie andere Kinder entwickeln", sagte der Arzt damals bei der Entlassung aus dem Krankenhaus. Was das im Einzelnen hieß, war zu jener Zeit nicht klar. "Und ist es auch heute nicht", fügt die Mutter hinzu. Wie es weiter geht mit Thommys Entwicklung, kann niemand vorhersagen. Die Brandners leben im Hier und Jetzt. Als er klein war, schrie Thommy ununterbrochen, beruhigte sich nur, wenn die Mutter ihn auf dem Arm herumtrug. "Wie kann ich dir helfen?" sei sie oft im Dorf gefragt worden. Helfen konnten weder Ärzte noch Heiler – "wir haben alles versucht". Zwischen 15 und 20 Mal stand sie jede Nacht auf, weil Thommy aufgewacht war, und im Bett gedreht werden musste. Andrea Brandner verlor 30 Kilo Gewicht, war völlig fertig. Da stieß sie zufällig auf die Delfintherapie, mit der Behinderten in Florida geholfen wurde. 2001 flog die Familie erstmals dorthin – seitdem schläft Thommy nachts durch.

Aleiga ist inzwischen fertig mit Decke und Haltegriff ausgestattet, die Hufe sind ausgekratzt – auch hier durfte Thommy helfen. Oder besser gesagt, er musste, denn Breitner bezieht ihn stets mit ein, aufmunternd, aber auch fordernd: "Das ist dein Pony, Thommy".

Er verstehe alles, sagt die Mutter, könne sich selbst aber nicht mitteilen. Umso wichtiger seien Ermunterung und Lob – wie bei gesunden Kindern auch.

Nur 24 Kilogramm wiegt der Junge, trotzdem ist es nicht leicht, ihn zu Breitner aufs Pferd hinauf zu heben, denn er ist lang gestreckt und steif wie ein Brett. "Schauen Sie", Brandner steht nun deutlich entspannt am Rand der Reithalle und prophezeit, dass Thommys Spastik in wenigen Minuten nachlassen wird. Tatsächlich winkelt er die Beine bereits an und kann auch kurz darauf die Zügel halten, ein Lächeln spielt um seine Lippen, er lehnt sich zurück an Breitner, ja, legt sich sogar in die Kurve. Erst seit diesem Frühjahr bekommt Thommy Reittherapiestunden.

"Seine Lebensqualität steigt dadurch", erzählt die Mutter begeistert. Er schlafe besser durch, sei insgesamt entspannter und besser zu haben. Die Wirkung hält an bis zur nächsten Reitstunde in einer Woche. Deshalb haben sich die Breitners zu seiner Kommunion nur Reitstunden gewünscht. Zwei weitere Male waren sie noch in Florida zur Delfintherapie. Mit einer langen Pause dazwischen, denn 2003 schlug das Schicksal erneut zu. Thommys Vater Bernhard erkrankte schwer, beide Nieren versagten und er schwebte tagelang zwischen Leben und Tod. Anderthalb Jahre Dialyse folgten. Da war keine Reise in die USA möglich, denn dort gäbe es praktisch keine flächendeckenden Dialysemöglichkeiten. In den USA herrsche kein Mangel an Spendernieren, weil jeder automatisch Organspender sei, wenn er dem nicht ausdrücklich widerspreche.

Schließlich spendete Bernhard Brandners Mutter ihm eine Niere, und mittlerweile geht er seinem Beruf als Busfahrer wieder voll nach. Wie sie den behindertengerechten Anbau für Thommy in dieser Zeit auch noch schafften? Achselzucken. "Irgendwie", antwortet Andrea Breitner. Schlimm war die erste Zeit nach der OP, als die neue Niere nicht gleich arbeiten wollte. "Das passiert bei Lebendspenden nur in drei Prozent der Fälle", sagt sie, "und wir waren wieder dabei". Das könnte bitter klingen, tut es aber nicht. So, wie sie es sagt, hört sich der Satz nach herzhaftem Galgenhumor an. "Das Warum verstehen werde ich nie", ergänzt sie mit Blick auf ihren Zehnjährigen, den sie gerade mit frischem Zwetschgendatschi gefüttert hat. "Aber annehmen müssen wir es".

Aus der Spendenaktion, die sie vor sieben Jahren für die erste Delfintherapie angeleiert hat, ist noch Geld für eine weitere, vierte vorhanden. Den Termin hat Thommy schon, nächsten Sommer im August, aber in Curacao, denn die Station in Florida wurde unter anderem aus Altersgründen aufgelöst. Und dann? "Mal sehen".

Der neue Therapiehof im Nachbarort Königsmoos ist auf jeden Fall "ein Geschenk des Himmels", in zehn Autominuten zu erreichen, und "Aleiga und Thommy sind ein Herz und eine Seele". Die Reittherapie muss die Familie selber bezahlen, die Krankenkasse hilft dabei nicht. "Ich will ja gar nicht alles bezahlt haben", meint Brandner, "aber ein Zuschuss wäre sehr hilfreich". Dass die Reittherapie bald in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufgenommen wird, ist ihr größter Wunsch. "Das tut den Kindern so gut", betont sie. Und der Familie mit, denn die ist besonders in den Ferien im Dauerstress. "Mit Thommy bin ich 24 Stunden beschäftigt". Andrea Brandner sagt das ganz ruhig. Keine Klage, eine schlichte Feststellung. Ihr Großer will immer beschäftigt sein. Sein jüngerer Bruder Josef (7) tut sein Bestes. Für Thommy jedenfalls macht er alles. Wenn die Mutter etwas anderes von ihm möchte, schaltet auch Josef auf Durchzug – wie die meisten Kinder seines Alters.

Trotz der Schicksalsschläge – kürzlich starb auch ihr Bruder überraschend – strahlt Andrea Brandner Optimismus aus. Und Thommy ist überall mit dabei. Auch sonntags in der Kirche. "Er singt halt dann, wenn es ruhig ist und lauscht, wenn die anderen singen", erzählt sie. So sei er halt, und das werde von allen respektiert.