Ingolstadt
Anwälte der Opfer

Beim Weißen Ring gibt Siegfried Ratay nach 20 Jahren Leitung den Stab an Semra Yilmaz weiter

19.06.2020 | Stand 02.12.2020, 11:08 Uhr
Hilfe für Kriminalitätsopfer: Bereits seit 1978 gibt es auch für Ingolstadt und den Landkreis Eichstätt eine Außenstelle des Weißen Rings. Seit dem Jahr 2000 hat der frühere Ingolstädter Kripo-Chef Siegfried Ratay die lokale Gruppe des Vereins angeführt. Er hat sich nun in den Ehrenamts-Ruhestand verabschiedet und die Leitung an seine bisherige Stellvertreterin Semra Yilmaz übergeben. −Foto: Heimerl

Ingolstadt/Eichstätt - Opfer eines Verbrechens zu werden, verändert das Leben oft nachhaltig.

Das ist bei körperlichen Auswirkungen womöglich sogar offensichtlich, doch auch und gerade seelische Folgen einer erlittenen Straftat können Menschen über lange Zeit belasten. Hinzu kommt Stress durch polizeiliche Ermittlungen und - hoffentlich - juristische Aufarbeitung vor Gericht. Auch hier müssen in Mitleidenschaft gezogene Menschen durch Vernehmungen und Zeugenbefragungen nochmals Kräfte lassen. Nicht jeder schafft das allein.

Schon seit 1978 - nur zwei Jahre nach Gründung der deutschen Sektion, unter anderem durch den bekannten Fernsehjournalisten Eduard Zimmermann - gibt es eine für Ingolstadt und den Landkreis Eichstätt zuständige Außenstelle des Weißen Rings. Dieser gemeinnützige Verein unterstützt Kriminalitätsopfer durch geschulte Opferhelfer und mitunter auch finanziell.

In der hiesigen Außenstelle hat es diesen Monat einen personellen Wechsel gegeben: Nach 22 Jahren, davon 20 in der Führung, hat sich Ingolstadts früherer Kripo-Chef Siegfried Ratay (84) in den wohlverdienten Ehrenamts-Ruhestand verabschiedet. Neue Leiterin ist Semra Yilmaz (48), die auch schon über 15-jährige Erfahrung beim Weißen Ring verfügt. An der Spitze eines derzeit sechsköpfigen Helferkreises wird sie die erfolgreiche Vereinsarbeit weiterführen. Dringendster Wunsch ist dabei der nach ein paar neuen Kräften speziell im Landkreis. Denn den großen ländlichen Raum von Ingolstadt aus abzudecken, erfordert weite Wege und entsprechend viel Zeit, die berufstätige Ehrenamtliche ja oft erst nach Feierabend haben.

Insofern war Siegfried Ratay über gut zwei Jahrzehnte ein wahrer Glücksfall für den Weißen Ring. Ein pensionierter leitender Polizeibeamter mit vielfältigen Kontakten zu Behörden und in die Justiz hinein sowie einem schon berufsmäßigen Gespür für die Sorgen und Nöte von Verbrechensopfern war wie geschaffen für dieses Ehrenamt. Aus langer beruflicher Erfahrung wusste Ratay vom Start weg, dass bei der Arbeit der Polizei die eingehendere Sorge um die Opfer häufig auf der Strecke bleibt. Bleiben muss, weil die Aufmerksamkeit der Ermittler großenteils der Aufklärung von Verbrechen gilt und weniger der Nachsorge für Leidtragende. Und, so sagt Ratay: "Auch die Medien interessieren sich oft mehr für die Täter als für die Opfer. "

Natürlich gibt es auch für die Geschädigten Anlaufstellen, doch die wollen gefunden werden. Längst ist es daher üblich, dass die Polizei bei heftigeren Delikten von sich aus auf den Weißen Ring hinweist. Melden muss sich ein Hilfesuchender selber. Die Opferhelfer übernehmen dann je nach den Gegebenheiten eines Falles die Begleitung zu Behörden und/oder die Vermittlung zu Fachärzten (häufig Psychologen) oder Beratungsstellen. Auch drängende finanzielle Not kann mitunter aus Vereinsgeldern gelindert werden.

Klassische Delikte für eine gründliche Aufarbeitung auf Opferseite sind sicher Sexualstraftaten, die bei der Beratungstätigkeit des Weißen Rings vormals einen hohen Anteil ausgemacht haben. Weil hier im Raum Ingolstadt auch die professionellen Helfer des Vereins Wirbelwind aktiv sind, haben sich die Fallzahlen auf diesem Sektor in den vergangenen Jahren beim Weißen Ring etwas verringert.

Doch auch so bleiben laut Siegfried Ratay für die hiesige Außenstelle stets 60 bis 80 Fälle im Jahr - nicht immer nur Vorkommnisse, bei denen die Opfer selber Gewalt erlebt haben. Selbst ein Wohnungseinbruch, so erklärt der langjährige Opferhelfer, kann einen Betroffenen traumatisieren und in psychische Nöte bringen - manchmal können Menschen danach sogar nicht mehr in ihrem Zuhause leben und müssen umziehen. Doch ganz gleich, welches "Kaliber" ein Fall hat: "Jeder, der zu uns kommt", sagt Ratay, "ist gut beraten. Wichtig ist uns, dass ein Betroffener auch um seine Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz weiß. "

Menschen, die beim Weißen Ring mitmachen wollen, brauchen vor allem viel Einfühlungsvermögen, Empathie, Empfänglichkeit für eben nicht alltägliche Sorgen. Siegfried Ratay hat über die Jahre gelegentlich auch mal neue Kolleginnen und Kollegen im Team gehabt, die dieser schwierigen Aufgabe dann doch nicht auf Dauer gewachsen waren. Man müsse sich die Menschen auch daraufhin anschauen, ob sie robust genug für solch eine Aufgabe seien, sagt er.

Und nicht immer ist die Unterstützung von jetzt auf gleich zu leisten. Ratays Nachfolgerin Semra Yilmaz ist berufstätig, hat als angestellte Dentalhygienikerin meistens nur nach Feierabend oder nach entsprechender Abstimmung mit dem Arbeitgeber Zeit. Wer auf dem Kontakttelefon (die Mobilnummer 0173/9899457 findet sich auch in jeder DK-Ausgabe auf der Service-Seite unter der Rubrik "Notdienste") anruft und nicht sofort Anschluss findet, bekommt aber die Zusicherung, dass er binnen 48 Stunden zurückgerufen wird. Die Mailadresse lautet weisser. ring@yilmaz-in. de.

DK