Ingolstadt
Anno dazumal

Die Erinnerungsbücher aus dem Zeitgut-Verlag sind Zeitdokumente, Unterhaltungsliteratur und Gesprächsanlass in Pflegeheimen

07.08.2013 | Stand 02.12.2020, 23:48 Uhr

 

Ingolstadt (DK) Der Blick durchs Schlüsselloch, die Frage, was passiert, wenn die Haustür geschlossen wird, das Publikum draußen bleiben muss, boomt. Biografien von Prominenten – ganz gleich, wie jung diese sind – rangieren heute schnell auf den Bestsellerlisten weit oben. Wie der Alltag der eigenen Eltern oder Großeltern in deren Jugend aussah, scheint dagegen eher zu langweilen in einer Zeit, in der vor allem das Schräge, das Außergewöhnliche, gar Abseitige die Quote bringt.

Ganz andere Erfahrungen hat dagegen der Zeitgut-Verlag in Berlin mit Erinnerungsbüchern gemacht. Seit 1997 sammelt der Verlag, der zu diesem Zweck von dem Berliner Publizisten Jürgen Kleindienst und der Lektorin Ingrid Hantke gegründet wurde, Erinnerungen von Zeitzeugen. Ziel ist es, das 20. Jahrhundert mit episodenhaften, lebendigen Erinnerungen als sogenannte „oral history“ zu bewahren. Derzeit liegen 28 Sammelbände zu bestimmten Zeiträumen wie „Deutschland – Wunderland. Neubeginn 1950-1960. Erinnerungen aus Ost und West“ mit darin jeweils 35 bis 50 Erinnerungen verschiedener Zeitzeugen vor. Dazu kommen seit 2002 die Einzelbände, die sich nur einem Schicksal widmen, und die Themenbände wie der jetzt passend zur Urlaubs- und Ferienzeit wieder aufgelegte Band „Unvergessene Ferienzeit 1923–1962. Erinnerungen an Sommerfrische, Urlaub und Freizeit“. Insgesamt zählt der Verlag rund 320 000 verkaufte Exemplare.

Die Themenbände speisen sich aus bereits erschienenen Sammelbänden und sollen vor allem unterhalten. Auf eine doch unspektakuläre Weise, wie es Ingeborg Müller-Exo von ihren Ferien im Jahr 1925 erzählt: „Um so mehr Spaß hatten wir, als einmal eine Flasche mit Lakritzwasser explodierte und die braune Brühe von Decke und Wand in dekorativem Muster herunterlief. Zu Hause hätte es Strafe gegeben, aber Großmutter drückte beide Augen zu. Die Eltern waren abgereist, und wir hatten freie Bahn.“ Fernab der strengen elterlichen Erziehung im Rhein baden, im Garten Beeren pflücken, Lieblingsessen gekocht bekommen, abends gemeinsam singen und Geschichten lauschen: Die Erlebnisse, so lebendig sie auch erzählt sind, hören sich – verglichen mit heutigen Erwartungen an Urlaub und Ferien – wenig sensationell an. Auch die anderen Geschichten dieses Bandes erzählen selten von großen Abenteuern oder fernen Zielen. Stattdessen freute sich der heute in Ingolstadt lebende Paul Gerhard Misch wenige Jahre nach Kriegsende und eigener Kriegsgefangenschaft über eine „Radltour von Ingolstadt an den Chiemsee“, genoss die junge Lehrerin Irmgard Notz zusammen mit ihrer Kollegin die freie Atmosphäre, besonders Speaker’s Corner und die Freundlichkeit der britischen Polizei, in London.

„Es sind die Erinnerungen von Menschen wie du und ich aus allen Gesellschaftsschichten und aus einer anderen Zeit“, sagt Verlagssprecher Daniel Schlie. „Unsere Erinnerungsbücher sind für die Generationen der Autoren gedacht. Aber auch für junge Menschen heute. Die können sehen, wie früher der Alltag bewältigt wurde und Anregungen für ihr Leben heute erhalten“, sagt Schlie. Die Bände werden deshalb von einigen Geschichtslehrkräften zusätzlich zum eher trockenen Geschichtsbuch im Unterricht benutzt – allerdings erst für Jugendliche ab zwölf Jahren. Schließlich erinnern sich Zeitzeugen auch an schwierige und dramatische Zeiten.

Deshalb sammelt die 2010 neu gestartete „Vorlese-Reihe“ – gedacht für den Einsatz in der Altenpflege – positive Aspekte der Alltagsbewältigung. Die Reihe entstand auf Anregung der Expertin Bettina Rath. Sie regte mit Geschichten aus den Bänden an Demenz Erkrankte in Senioren- und Pflegeheimen zu Gesprächen an und empfahl die Geschichten auch pflegenden Angehörigen, um ihnen einen Einblick in die Kindheit und Jugend ihrer Verwandten zu geben. „Dabei sollen sich sogar schon Patienten geöffnet haben, die sonst sehr wenig von sich preisgeben“, sagt Schlie.

Der Rückgriff auf bereits erschienene Geschichten für Themenbände bedeute nicht, dass Texte fehlten. Wurden zu Beginn Zeitungsannoncen aufgegeben, um Erinnerungen zu erhalten, sei das Projekt nun „ein Selbstläufer“: „Zeitzeugen rufen bei uns an. Manchmal Verwandte, die Manuskripte oder Tagebucheinträge von verstorbenen Familienmitgliedern haben“, sagt Daniel Schlie. Zudem liegen den Bänden Antwortkarten für die Kontaktaufnahme bei. Mehr als 8700 Texte von 3500 Zeitzeugen haben die Verlagsmitarbeiter bereits gesichtet und teilweise veröffentlicht.

Wer unsicher ist, erhält eine Autoreninformation unter anderem in Form eines Briefes, den Herausgeber Jürgen Kleindienst an einen Zeitzeugen geschrieben hat, mit Tipps zum Schreiben. Schlie: „Grundsätzlich werden die Texte nur sanft lektoriert, achten wir zwar auf Tippfehler oder fragen bei unbekannten Begriffen und Orten nach. Uns ist dabei bewusst, dass die Texte eine unterschiedliche literarische Qualität haben. Unser Hauptaugenmerk liegt auf der Authentizität.“