Aichach
Angst vor den eigenen Gedanken

Junge Mutter gründet Selbsthilfegruppe für Betroffene von Zwangsgedanken

02.06.2021 | Stand 23.09.2023, 18:58 Uhr
Bei Zwangsgedanken handelt es sich um eine schwere psychische Erkrankung, die oft chronisch verläuft, den Alltag der Betroffenen bestimmt und so ihre Lebensqualität stark einschränkt. −Foto: Pixabay (StockSnap)

Aichach - "Wenn das mein Leben ist, dann will ich es nicht haben", hatte sie gedacht, als ihr Therapeut die Diagnose stellte: Zwangsgedanken.

Zwei Monate nach der Geburt des Kindes quälten sie auf einmal verstörende Gedanken: Was, wenn sie ihrem Kind etwas antut? "Für mich war es das Schlimmste, dass meiner Tochter etwas passieren könnte und ich schuld daran bin", sagt die junge Frau im Gespräch mit unserer Zeitung.

Mittlerweile ist sie in Therapie und hat dabei gelernt, mit den Zwangsgedanken zu leben - denn eine Zwangsstörung ist meistens chronisch. Und noch immer ein Tabuthema, weshalb sich Betroffene oft erst sehr spät Hilfe suchen. Um ihnen zu zeigen, dass sie mit der psychischen Erkrankung nicht alleine sind, hat die Frau eine Selbsthilfegruppe gegründet. Das erste Treffen findet am Donnerstag, 10. Juni, online statt.

Als ihre Tochter zur Welt kam, war die "Bilderbuchfamilie" nach außen hin perfekt. "Ich dachte mir: Es muss mir doch gut gehen", blickt die Ende-20-Jährige zurück. Doch das tat es nicht: "Jeder Tag war die Hölle", berichtet die Mutter. "Ich konnte es nicht akzeptieren, dass ich solche Gedanken habe. Doch je mehr man versucht, sie zu verdrängen, desto stärker werden sie. "

Zu den Gedanken an sich kamen Zwangsrituale: Um mehr Sicherheit zu bekommen, hat die Mutter eine für sie gefährliche Situation dann immer wieder gedanklich durchgespielt, wie sie erzählt: Habe ich das Kind wirklich richtig gehalten, gab es einen Moment, an dem durch mein Fehlverhalten etwas Schlimmes hätte passieren können? Und sie hatte das dringende Bedürfnis, sich bei ihrem Partner rückzuversichern: Habe ich etwas falsch gemacht? Schließlich folgte die Internetrecherche zu Fällen, in denen Eltern ihren Kindern tatsächlich Leid zugefügt hatten: Was habe ich mit ihnen gemeinsam, was unterscheidet mich von ihnen? "Ich war immer auf der Suche nach der Bestätigung, dass ich anders bin", erklärt die Frau. Und das ist sie, wie sie in der Therapie gelernt hat.

Zwangsgedanken sind eine schwere psychische Erkrankung, die sich immer gegen das eigene Wertesystem richten und gegen das, was einem am liebsten ist, in diesem Fall das eigene Kind. Es sind und bleiben aber Gedanken, sie werden nicht ausgeführt. Eltern kennen das Gefühl, in manchen Momenten der Erziehung an ihre Grenzen zu kommen. Wenn sie dann zum Beispiel äußern, sie hätten den Nachwuchs "ungespitzt in den Boden hauen können", tun sie das nur, um Dampf abzulassen - und wissen das auch. Bei der jungen Mutter lösten ihre Gedanken aber Panik aus und damit verbundene körperliche Symptome wie hohen Puls und Hitzewallungen. "Ich weiß, dass ich so etwas nie machen würde, aber die Angst ist so groß", schildert sie mit Tränen in den Augen. "Der Unterschied ist, dass ich das Urvertrauen zu mir nicht habe. " Das ging so weit, dass sie zeitweise nicht mehr allein sein konnte mit ihrer Tochter.

In der Therapie stellte sich heraus, dass die junge Frau schon seit der Kindheit von Zwangsgedanken und Zwangshandlungen betroffen ist. Damals hatte sie ständig panische Angst, ihren Eltern könnte etwas Lebensbedrohliches zustoßen oder sie könnte an einer unerkannten Krankheit sterben. Dass es sich dabei schon um eine psychische Störung handelte, war der Familie nicht klar: Die Eltern hielten die Tochter für sensibel, sie selbst war der Meinung, sie passe einfach nur gut auf sich auf, wie sie sich erinnert.

Für derartige Gedanken verurteile einen aber niemand - im Gegensatz zu ihren jetzigen, sagt sie. Aus diesem Grund rede auch niemand darüber, es sei "ein absolutes Tabuthema". Ihr Wunsch nach Austausch mit anderen Betroffenen sei daher sehr groß. Zudem habe es ihr selbst sehr geholfen, in der Therapie zu erfahren, dass sie mit diesem Problem nicht allein ist. "Es tut so gut zu hören, wie jemand offen darüber spricht und nicht daran zugrunde gegangen ist", weiß sie.

Die Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen des Gesundheitsamts Augsburg bestätigt im Gespräch mit unserer Zeitung die Wichtigkeit derartiger Treffen. Angesichts langer Wartelisten der Therapeuten könnten diese Gruppen in akuten Erkrankungsphasen wichtige Unterstützung bieten. Die Kontaktstelle hilft Betroffenen bei der Suche nach Beratungsangeboten und ist auch beim Aufbau und Bekanntmachen von Selbsthilfegruppen für sie da. Zwangserkrankte können sich darüber hinaus an die Sozialpsychiatrischen Dienste wenden, die in Aichach-Friedberg der Caritasverband und für den Raum Augsburg die Diakonie anbieten.

Die Gründung der Selbsthilfegruppe ist auch Teil der Konfrontationstherapie für die Betroffenen. "Ich will mich nicht mehr schämen für etwas, für das ich nichts kann", sagt die junge Frau. Für sie und andere Zwangserkrankte wünsche sie sich einen Abbau der Stigmatisierung, die Scham- und Schuldgefühle mit sich bringe.

? Das erste Online-Treffen der Selbsthilfegruppe für Betroffene von Zwangsgedanken findet am Donnerstag, 10. Juni, um 19.30 Uhr statt. Betroffene, egal welchen Wohnorts, können sich dafür anmelden per Mail an zwangsgedanken-aic@web. de, dann erhalten sie ein Passwort zum Einloggen in das Treffen. Künftig sind persönliche Treffen geplant, sobald dies die Pandemie-Situation zulässt.

Weitere Auskünfte erteilt die Gruppengründerin per Mail-Anfrage, Betroffene können sich zudem an die Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen des Gesundheitsamts Augsburg wenden (telefonisch unter 0821/324-2016 oder per Mail an shg. gesundheitsamt @augsburg. de).

SZ

Nayra Weber