Ingolstadt
Am Ende des Puzzles ein Schuldspruch

09.02.2017 | Stand 02.12.2020, 18:40 Uhr

Betretene Gesichter nach dem Urteil: Der Angeklagte (rechts) wird mit seinen Verteidigern Franz Wittl und Jörg Gragert (vorne) wohl eine Revision beim BGH beantragen. - Foto: Hammer

Der Prozess um die Ermordung der schwangeren Kellnerin Anastasia M. im November 2015 ist mit der Verurteilung ihres heute 25-jährigen Ex-Freundes zu lebenslanger Haft zu Ende gegangen. Die Verteidigung will die Revision beantragen.

Ingolstadt (DK) 9.18 Uhr, Saal 11 des Ingolstädter Landgerichts. Die Minute, die über die Zukunft des jungen Mannes auf der Anklagebank entscheidet - und mit ihm halten gestern Morgen wohl viele der knapp 100 Anwesenden den Atem an. Dann die nüchterne Stimme von Landgerichtsvizepräsident Jochen Bösl, der den 23. Verhandlungstag im Mordfall Anastasia sogleich mit dem Urteil eröffnet. "Im Namen des Volkes" verkündet er den Spruch des Schwurgerichts: schuldig im Sinne der Anklage; lebenslange Haft für den Mord an der 22-jährigen Anastasia M. und die damit verbundene Tötung ihres ungeborenen Kindes. Dem 25-jährigen Angeklagten sinkt der Kopf auf die Brust.

Es ist der Moment, der den gelernten Koch und Ex-Soldaten, den Ex-Freund Anastasias, "am Boden zerstört", wie es sein Anwalt Jörg Gragert später ausdrücken wird. Auch wenn der schlanke junge Mann sich schnell wieder aufrichtet, hat er jetzt wohl ultimativ begriffen, dass er sein Leben nun mit einiger Wahrscheinlichkeit für mindestens 14 weitere Jahre hinter Gittern verbringen wird. Er muss seine Brille absetzen und sich über die Augen wischen. Seine Schwester, die sich mit den Eltern auf den restlos gefüllten Zuschauerrängen befindet, schluchzt in sich hinein.

Emotionen. Aber nicht nur auf dieser Seite der unmittelbar Betroffenen. Auch Anastasias Mutter, im Prozess als Nebenklägerin aufgetreten, muss während der langen Urteilsbegründung, in der mehrfach auf die prekären Lebensumstände ihrer ermordeten Tochter in Ingolstadt eingegangen wird, immer wieder schlucken und mühsam Tränen unterdrücken. Nach der Verhandlung will sie sich nicht öffentlich äußern. Jetzt, so mutmaßt ihr Anwalt Hans-Jürgen Hellberg (Vilshofen), jetzt könne für seine Mandantin vielleicht endlich die Trauerarbeit zur Bewältigung ihres Verlustes beginnen.

Als die Anwälte und Angehörigen von Opfer und nun gerichtlich festgestelltem Täter am Mittag im Saal und im Foyer des Landgerichts beieinanderstehen, haben sie eine epische Urteilsbegründung gehört. Vorsitzender Bösl hat in gut dreieinhalb Stunden, nicht von einer einzigen kleinen Pause unterbrochen, die vielen Facetten dieses für Ingolstadt bislang beispiellosen Indizienprozesses ausgebreitet, Puzzlestück für Puzzlestück betrachtet, interpretiert und bewertet. Er liefert eine große Retrospektive des Tatablaufs und der Motivationslage des Täters, geht auch auf Nebenstränge der Verhandlung ein, würdigt auch theoretisch denkbare andere Abläufe: "Wir haben uns bemüht, in alle Richtungen aufzuklären." Doch dann resümiert Bösl mit aller Entschiedenheit, dass das Gericht von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt ist.

Die Ausführlichkeit seiner Begründung, sagt der Vorsitzende, diene nicht nur der Erläuterung für den Verurteilten, sondern auch der breiten Information der Öffentlichkeit, die bei den Plädoyers in der Vorwoche - wie berichtet - ausgeschlossen worden war.

Was sind nun die Punkte, die das Gericht so klar von der Schuld des 25-jährigen Mannes überzeugt haben? Jochen Bösl betont, dass die drei Berufs- und zwei Laienrichter auf dem Podium sich in diesem Verfahren keinem einzigen klaren Beweis, sondern durchweg Indizien mit gewissen "Beweisanzeichen" gegenübergesehen haben.

Nicht durch jeden einzelnen Punkt, so der Vorsitzende, aber in der Gesamtschau habe die Strafkammer dann die Gewissheit gewonnen, dass nur der Angeklagte als Täter infrage komme. Daran habe auch die berühmte Rechtsformel "in dubio pro reo" (im Zweifel für den Angeklagten) nichts ändern können. Der Zweifelsgrundsatz sei zwar in der Schlussbetrachtung beachtet worden, habe aber nicht verfangen können. Bösl: "Wir haben keine mathematische Sicherheit, aber es bestehen keine vernünftigen Zweifel."

So ist der mit winzigen Anhaftungen von Anastasias Blut versehene Kapuzenpullover, der noch am Tag des Leichenfundes in der elterlichen Wohnung des Angeklagten zuoberst in einer Wäschebox gefunden wurde, für das Gericht das schwerwiegendste Indiz. Auch wenn das Alter der Spuren nicht festzustellen ist, so Jochen Bösl, sei das Tragen dieses Kleidungsstücks durch den jungen Mann in der Tatnacht die wahrscheinlichste Erklärung für die Spuren, zumal der frühestmögliche Zeitpunkt für einen anderen Anlass der Kontamination mindestens sieben Wochen zurückliegen musste (so lange hatten sich Angeklagter und Opfer zuvor nicht gesehen).

Auch die Handykommunikationsdaten des Beschuldigten vor und nach der Tat (DK berichtete mehrfach ausführlich), das offenbar bewusste Ausschalten seines Telefons während der Tatzeit, die Wiederanmeldung des Geräts im Mobilfunknetz nur wenige Minuten nach dem errechneten Tatzeitraum (am 29. Oktober 2015 kurz nach Mitternacht) in mittelbarer Nähe zum Tatort und auch der Umstand, dass er noch kurz vor seiner Festnahme (am selben Tag) auf seinem Smartphone eine DK-Online-Nachricht zum Leichenfund aufgerufen hatte, belasten den Angeklagten nach Auffassung der Richter schwer.

Die Motivlage ist für die Strafkammer demnach ebenfalls deutlich erkennbar: Anastasia, im siebten Monat schwanger, in einem Notquartier untergebracht und erneut von Obdachlosigkeit bedroht, habe sich an die Hoffnung geklammert, mit dem Freund, den sie zuletzt unbeirrt für den Vater ihres ungeborenen Kindes hielt, ein gemeinsames Leben beginnen zu können.

Der Angeklagte, seinerzeit noch Zeitsoldat bei der Bundeswehr und voller Pläne, dort noch eine gewisse Karriere machen zu können, habe diese beruflichen Ziele und auch sein unbeschwertes Leben und die Hoffnung, beizeiten noch die richtige Partnerin fürs Leben zu finden, durch den von der jungen Frau immer stärker aufgebauten Druck in Gefahr gesehen. Die ihm als sozial schwierig, wankelmütig und mitunter hysterisch geltende Freundin, eine reine Sexbekanntschaft, habe nicht zu diesen Wünschen gepasst. Jochen Bösl: "In seiner Vorstellungswelt hatte eine Anastasia M. überhaupt keinen Platz."

Nachdem er zu der schwangeren Freundin in der Annahme, vielleicht wirklich der Vater des ungeborenen Kindes zu sein, keinen klaren Schnitt hinbekommen habe, sei er aufs Taktieren, Hinhalten und Vertrösten per Handy, vor allem per WhatsApp-Nachrichten, verfallen, hält der Vorsitzende dem jungen Mann vor. In den letzten Wochen vor der Tat habe er Anastasia schließlich nur noch "nach Strich und Faden belogen". Als er dann Ende November 2015 einem Treffen und einer befürchteten Aussprache nicht mehr habe ausweichen können, sei er auf den Plan verfallen, die ihm lästige Bekannte zu beseitigen. Und nur zu diesem Zweck habe er sich in der Tatnacht mit ihr verabredet.

Die Wahl des Tatorts nahe der Donau und des Zeitpunkts mitten in der Nacht sei mit Blick auf eine ungestörte Tatausübung erfolgt, der eigentliche Angriff für das Opfer überraschend und deshalb heimtückisch gewesen - ein Mordmerkmal. Es stehe für das Gericht fest, so der Vorsitzende, dass der Angeklagte die Frau von hinten erschlagen, noch weiter mit Stichen verletzt, zum Fluss geschleift und dort ertränkt und nochmals auf ihren Kopf eingeschlagen habe. Die Tötung von Mutter und Kind sei aus reinem Eigennutz und deshalb aus niederen Beweggründen erfolgt. Bösl: "In hohem Maße verachtenswert."

Die Verteidigung sieht das alles nicht so. Leider, so resümiert Verteidiger Jörg Gragert später auf dem Gerichtsflur, habe seine Argumentation, dass das enge Zeitfenster der Tat - unter zehn Minuten - gar nicht für Begehung, Flucht und umfassende Spurenbeseitigung reichen könne, nicht verfangen: "Das Gericht hat unsere Zweifel nicht ausreichend gewürdigt." Gragert sieht eine Revision des Urteils beim Bundesgerichtshof als unvermeidlich an. Deshalb ist es vorläufig auch noch nicht rechtskräftig. Bis der BGH entscheidet, wird es wohl Sommer werden.