Als der Krieg plötzlich ganz nah war

14.04.2020 | Stand 02.12.2020, 11:33 Uhr
  −Foto: HL |Heimerl, Bernd, Ingolstadt

Es war die größte Trauerfeier, die Ingolstadt in der jüngeren Geschichte erlebt hat. Bürger und Staat nahmen im April 2010 Abschied von vier getöteten Bundeswehrsoldaten, zwei davon aus der hiesigen Garnison. Diese Männer waren am 15. April 2010, heute vor zehn Jahren, in Afghanistan gefallen.

Ingolstadt - Seit dem Zweiten Weltkrieg hatte niemand in der Bundesrepublik mehr aus aktuellem Anlass von gefallenen deutschen Soldaten sprechen müssen. Bis zu jenem Frühjahr vor zehn Jahren. Da brachte der Nato-Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan Szenarien mit sich, die in der politischen Führung plötzlich unverblümt als Krieg angesprochen wurden: Bei einem Feuergefecht mit Aufständischen kamen am Karfreitag 2010 drei Angehörige einer niedersächsischen Einheit ums Leben, zwei Wochen später im Baghlan-Tal bei einem Anschlag drei Soldaten aus Ingolstadt und Weiden sowie unmittelbar darauf noch ein Bundeswehrarzt aus Ulm. Es waren Verluste, die die Angehörigen dieser Männer unvermittelt getroffen haben und die nicht nur bei ihnen, sondern in den betroffenen militärischen Verbänden bis heute nachwirken.

Hauptfeldwebel Marius Dubnicki (32) und Stabsunteroffizier Josef Kronawitter (24) vom Ingolstädter Gebirgspionierbataillon8 waren am 15. April 2010 als Mitglieder eines im afghanischen Kunduz stationierten Einsatzkontingents die ersten Angehörigen der Bundeswehr-Gebirgstruppe überhaupt, die bei Kampfhandlungen ums Leben gekommen sind. An jenem Tag hatten sie gemeinsam mit afghanischen Soldaten im seinerzeit hart umkämpften Baghlan-Tal eine Brücke inspizieren wollen, als unter ihrem nur leicht gepanzertes Gefechtsfahrzeug vom Typ Eagle IV ein getarnter Sprengsatz explodierte. Die beiden Männer waren nach allen vorliegenden Erkenntnissen auf der Stelle tot.

Mit den beiden Ingolstädter Soldaten starb der in Weiden stationierte Major Jörn Radloff; mehrere andere Soldaten wurden teils schwer verletzt. Nur wenig später geriet dann noch ein Bergungstrupp der Bundeswehr, der auf dem Weg zum Anschlagsort war, nahe der Stadt Pol-i-Khumri in einen Hinterhalt. Beim Beschuss mit einem Panzerabwehrgeschoss starb der Oberstabsarzt Thomas Broer vom Bundeswehrkrankenhaus in Ulm. Er war das vierte Todesopfer der deutschen Streitkräfte an diesem verhängnisvollen Tag im Baghlan-Tal.

Nach der Überführung der sterblichen Überreste nach Deutschland entschied sich die Bundeswehr für eine gemeinsame Trauerfeier für alle vier Gefallenen in Ingolstadt, wo immerhin zwei der Männer zuvor stationiert waren. Am 24. April 2010 erlebte die Stadt deshalb einen so noch nicht gesehenen Auftrieb von Offiziellen aus Bundes- und Staatsregierung sowie aus Reihen der Streitkräfte - an der Spitze Bundeskanzlerin Angela Merkel, Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, Generalinspekteur Volker Wieker, Außenminister Guido Westerwelle sowie die Ministerpräsidenten von Bayern und Baden-Württemberg, Horst Seehofer und Stefan Mappus. Auch der damalige afghanische Außenminister Salmai Rassul gab den in seinem Land getöteten deutschen Soldaten die letzte Ehre.

1000 Trauergäste fasste das Liebfrauenmünster, an die 2000 weitere Besucher , darunter viele Soldaten aus allen Landesteilen, füllten den Vorplatz der Kirche und die Theresienstraße, wohin der Gottesdienst und die Ansprachen der Offiziellen auf zwei Großbildschirmen übertragen wurden. Das Fernsehen lieferte überdies Bilder für die gesamte Nation. Das hat es davor und danach in Ingolstadt nicht gegeben - doch auf so viel Aufmerksamkeit aus so traurigem Anlass hätten alle Beteiligten sicher gerne verzichtet.

Kanzlerin Merkel kondolierte den Angehörigen der Gefallenen, hielt sich aber mit offiziellen Worten zurück. Für die Bundesregierung sprach Verteidigungsminister zu Guttenberg, dem die undankbare Aufgabe zukam, den in der Bevölkerung zunehmend kritischer gesehenen Bundeswehreinsatz im fernen Afghanistan angesichts der frischen Opfer zu rechtfertigen. Dort sei die Truppe dabei, "unserer Gesellschaft einen Schutz zu geben, dessen Bedarf wir erst zögerlich wahrzunehmen beginnen", sagte der Minister damals - möglicherweise ja tatsächlich noch in der Hoffnung, dass der Westen in diesem von inneren Unruhen zerrissenen Land wirkliche Fortschritte im Kampf gegen Terror und Zerfall staatlicher Ordnung erringen könnte. An den inzwischen weitgehend vollzogenen Rückzug der Nato-Truppen und gar Verhandlungen mit den Taliban, wie inzwischen von den USA vollzogen, war vor zehn Jahren noch nicht zu denken.

Unabhängig von allen politischen Bewertungen des Afghanistan-Einsatzes haben die seinerzeit betroffenen Einheiten den Ereignissen vom April 2010 his heute eine ganz eigenen Erinnerungskultur gewidmet. Im Ingolstädter Bataillon beispielsweise wird Jahr um Jahr des Todestages der damals ums Leben gekommenen Kameraden gedacht - meistens auch mit deren Angehörigen. Für den heutigen zehnten Jahrestag war sogar eine besonders aufwendige Erinnerungsfeier in der Kaserne geplant, die allerdings wegen der gegebenen Umstände in der Corona-Krise auf den 12. November und damit in die Nähe des Volkstrauertages verschoben worden ist.

Die Bundeswehr hatte den Gefallenen vom 15. April 2010 zunächst ein provisorisches Ehrenmal im einstigen afghanischen Feldlager Feyzabad gewidmet. Heute sind Erinnerungstafeln mit ihren Namen Teil des Ehrenhains auf dem Gelände des Einsatzführungskommandos in Potsdam. Doch auch in der Ingolstädter Kaserne ist die Erinnerung täglich präsent. "Jeder Soldat und jede Soldatin, der oder die in der Pionierkaserne auf der Schanz unter dem Edelweiß Dienst leistet", so heißt es in einem aktuellen Beitrag des Bataillons zum Todestag auf den Internetseiten der Streitkräfte, "weiß um die Bedeutung des zentral aufgestellten Gedenksteines, auf dem die Namen jener zwei Kameraden angebracht sind, die in Afghanistan ihr Leben ließen."

DK