München
Aller Illusionen beraubt

Christian Stückl inszeniert Tschechows "Die Möwe" im Münchner Volkstheater als krachende Farce

02.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:16 Uhr

Exaltiert zappelnde Neurotiker: Oleg Tikhomirov und Jule Ronstedt in "Die Möwe". - Foto: Declair

München (DK) Bessere Zeiten hat dieses Landhaus in der russischen Provinz auch schon gesehen: Die Farbe an den hohen Türstöcken im Entree der ehemals hochherrschaftlichen Villa ist schon kräftig abgeblättert, der Regen tropft durchs Dach und rinnt über den Boden, weshalb die Protagonisten real und im übertragenen Sinn nasse Füße bekommen. Höchst symbolisch ist das Bühnenbild von Stefan Hageneier ausgefallen.

Denn Anton Tschechow hat in diesem Stück vom Jahre 1896 die Weltflucht und die Realitätsferne des absterbenden russischen Landadels und des dekadenten Großbürgertums atmosphärisch dicht eingefangen, als die zaristische Herrschaft ihrem Ende sich zuneigte. Ein Fünkchen Hoffnung auf eine bessere Zukunft haben zwar alle Mitglieder dieses Sorin-Clans noch, doch der Optimismus löst sich bald in Resignation und Verzweiflung auf. Denn kaputte, gescheiterte Existenzen in einer maroden Welt sind sie alle, die hier zu einem Familientreffen zusammengekommen sind und sich wie die Titel gebende abgeschossene Möwe fühlen.

Zu den herausragenden Stücken Tschechows, wie etwa "Der Kirschgarten" oder "Onkel Wanja", gehört dieses vom Autor als "Komödie in vier Akten" bezeichnete Melodram bestimmt nicht, wenngleich all die typischen Tschechowschen Ingredienzen auch in der "Möwe" enthalten sind: Elegie, Melancholie und Tristesse. Doch was destillierte Christian Stückl, Intendant des Münchner Volkstheaters, als Regisseur aus diesem kritischen Seelen- und Gesellschaftsgemälde? Im ersten Teil exaltierte, zappelnde Neurotiker und liebenswerte Chaoten, nach der Pause freilich lässt die ausgelassene Partystimmung leider erheblich nach. Als grelles Panoptikum von Hypochondern und Hysterikerinnen lässt Stückl die Figuren zunächst über die Bühne rasen, schreien, brüllen und toben, als sei's ein mit reichlich Irrsinn und mit Champagner getränktes Vaudeville von Feydeau. Alle sind meschugge: Sei es die gefeierte, egozentrische Schauspielerin Arkadina (köstlich: Jule Ronstedt im knallroten Prinz-Eisenhetz-Outfit), ihr am Leben und an der Liebe scheiternder Schriftstellersohn Konstantin, (als Sturm und Drang-Jüngling herrlich aufgeblasen und pathosgeschwängert: Oleg Tikhomirov), der voll Feuereifer nach "neuen Formen" im Theaters sucht und schließlich Selbstmord begeht. Dessen Geliebte Nina, eine Nachwuchsmimin ohne Talent (Julia Richter) verknallt sich in Konstantins erbitterten Dichter- und Amouren-Konkurrenten Trigorin (Jakob Gessner), der auch noch der Lover von Konstantins Mutter ist. Dazu der linkische und zynische Arzt Jewgeni Sergejewitsch Dorn (Mehmet Sözer), das verhalten durchgeknallte Dienstmädchen Polina (Luise Deborah Daberkow) und die unglücklich liebende Mascha (Pola Jane O`Mara), die aus Verzweiflung in die Ehe mit dem armen Dorfschullehrer (Timocin Ziegler) einwilligt und ihre Illusionen mit Schnupftabak und reichlich Wodka wegkippt. Alle kasperln sich gestenreich und voller Exzentrik ihrem persönlichen Untergang und dem ihrer Gesellschaftsordnung entgegen.

Herrlich wild, total ausgeflippt und voller (Selbst-)Ironie wird dies von Stückl und seinem famos spielenden Ensemble zunächst über die Bühne gefetzt. Doch über fast drei Stunden hinweg trägt diese furiose, überbordende Knallchargen-Farce mit ihren Reminiszenzen an Nosferatu-Filme und Ekstase-Tänze der 1920er-Jahre samt der schrullig dargebotenen Dekadenz und all den schrägen Showeffekten aus zweitrangigen Musicals leider nicht.

Die nächsten Vorstellungen sind am 6., 12. und 13. November. Kartentelefon: (0 89) 5 23 46 55.