Ingolstadt
Alle Traurigkeit der Welt

"Ausweitung der Kampfzone": Großer Jubel für Barish Karademirs bildgewaltigen Abend in Ingolstadt

01.02.2019 | Stand 23.09.2023, 5:50 Uhr
Agieren mit der Wucht eines antiken Chores: Enrico Spohn, Tatiana Diara, Maik Rogge, Péter Polgár, Andrea Frohn, Ralf Lichtenberg und Sarah Schulze-Tenberge (von links). "Ausweitung der Kampfzone" wird im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt gespielt. −Foto: Olah

Ingolstadt (DK) Am Anfang: Evolution im Schnelldurchlauf zu treibenden Beats.

Menschheitsgeschichte in Bildfragmenten: Urknall, Erde, Zellteilung, Säugetiere, der Mensch, seine Schöpfungskraft, seine Zerstörungswut, automobile Revolution, Hitler, die Beatles, Schritte auf dem Mond, BushObamaTrump, Google, Facebook, Umweltzerstörung, erodierte Böden, totes Getier, Flucht und Vertreibung. Am Ende: Händels Klage-Arie "Lascia ch'io pianga" zu luziden Frauenporträts von da Vinci, Botticelli, Vermeer. Sehnsuchtsbilder. Doch schon wird die Oberfläche schrundig, schwärzliche Fraßschäden tilgen den Traum von einem Du. Es bleibt: Einsamkeit. Sedierter Schmerz.

"Ausweitung der Kampfzone" hat Michel Houellebecq seinen umstrittenen Debütroman von 1994 über einen jungen namenlosen Informatiker genannt, der sich in einer betriebsamen, aber kommunikationsunfähigen Gegenwart zunehmend isoliert. Seine Freundin Véronique hat ihn verlassen, seine Software-Firma schickt ihn auf eine Dienstreise in die Provinz - ausgerechnet mit dem erotomanischen Kollegen Tisserand, dessen Hässlichkeit jede Aussicht auf Eroberungen von vornherein zunichte macht. Mit kühlem Blick und kalter Wut seziert der Ich-Erzähler den Zustand der modernen Welt, seine Mitmenschen zwischen Konsumorientierung und Egoismus, ihre Funktionalität im dualen System aus Wirtschafts- und Sexualliberalismus, hinterfragt seine eigene Position in diesem Geflecht der Abhängigkeiten. Und weil er überdies Kurzweil in der Manipulation empfindet, stiftet er seinen Kompagnon zum Mord an. Der Plan misslingt. Der Ich-Erzähler verliert seinen Job und verharrt in der Depression.

Barish Karademir hat den Stoff nun ins Kleine Haus des Stadttheaters Ingolstadt gebracht - in einer unglaublich spannenden, hoch ästhetischen Tanz-Theater-Fassung, die am Donnerstagabend mit minutenlangem Beifall und Bravorufen gefeiert wurde. Der Regisseur hat aus Houellebecqs Roman eine Fassung aus Erzähl- und Dialogsequenzen extrahiert, die sowohl die Geschichte des Protagonisten skizziert als auch Einblick in seine Gedankenwelt gibt. Sechs Schauspieler und eine Tänzerin schickt er auf diese Reise. Jeder einzelne von ihnen schlüpft in die Figur des Ich-Erzählers, fügt eine persönliche Farbe hinzu, übernimmt gleichzeitig aber auch die Rollen der Gegenüber, der Kollegen, der Vergnügungssüchtigen, der anonymen Masse. Sie wechseln sich als Sprecher ab, sie teilen sich die Textzeilen, sie agieren mit der Wucht eines antiken Chores, sie flüstern vielstimmig Verzweiflungs-Echos.

Karademir greift den episodenhaften Charakter des Romans auf, verbindet aber die einzelnen Spielszenen mit großen Tableaus. Seine Akteure tanzen und taumeln durch eine gleichgültige Welt. Einer gegen alle - in den unterschiedlichsten Konstellationen. Monotone Muster, präzise Funktionsabläufe, groteske Gebärden, zaghafte Gesten der Selbstvergewisserung. Irgendwo beginnt bebend eine Bewegung, setzt sich fort im nächsten Spieler, gewinnt an Kraft, erzeugt Resonanzen, kulminiert in expressiver Wucht oder verglimmt in Slow Motion.

André M. Schreiber hat dafür eine so schlichte wie funktionale Bühne auf zwei Ebenen gebaut, auf der man ständig unter Beobachtung steht. Zieht man die silbernen Jalousien auf, öffnen sich Blicke auf kleine geschlossene Räume inmitten der Großstadttristesse, verspiegelte Wohnwaben, Minibüros, Schaufenster der Konsumwelt. Mehr als Stühle und Mikros stehen den Performern als Requisiten kaum zur Verfügung. Und vor allem das ist beeindruckend - wie sie die Welt des Ich-Erzählers nur durch ihre Körper erfahrbar machen.

Andrea Frohn, Sarah Schulze-Tenberge, Ralf Lichtenberg, Péter Polgár, Maik Rogge, Enrico Spohn und Tatiana Diara agieren mit großer Energie und subtilem Witz, mit Anmut und Raffinesse. Jeder für sich - und vor allem als Ensemble.

Bisweilen erinnern Barish Karademirs Choreografien an das Universum des Monsieur Hulot, an die Menschen, die in irgendeiner Art und Weise fremd sind in der modernen Welt der Technik und Objekte. Auch in Houellebecqs durchökonomisierter, übersexualisierter, komplexer Gegenwart befinden sich die Figuren im fortwährenden Kampf. Für diesen Kampf findet Karademir eine Ausdrucksform, die weit über Sprachliches hinausweist. Und weil er zudem über ein hervorragendes Ensemble verfügt, das sich mit Lust auf dieses postdramatische Theater einlässt, durchdringt er Houellebecqs Geschichte in all ihren Facetten. Da ist er, dieser Antiheld: desillusioniert und desolat, wund und wüst, erschöpft und gottverlassen. Zurückgeworfen auf sich selbst, ausgeliefert den Mechanismen des Marktes, eingehüllt in die Tröstungen der Psychopharmaka. Man spürt seine Traurigkeit.

Ein starker Abend ist das, der sich mit Miho Kasamas fantastisch visualisierten Bilderstürmen und Simon Reins elektronisch flirrendem Sounddesign zu einem grandiosen Gesamtkunstwerk verbindet. Besser als das Buch!

ZUM STÜCK
Theater:
Kleines Haus, Ingolstadt
Regie:
Barish Karademir
Ausstattung:
André M. Schreiber
Sounddesign:
Simon Reich
Videodesign:
Miho Kasama
Läuft bis:
3. März
Kartentelefon:
(0841) 30547200

Anja Witzke