Achterbahn und Wiesnbraut

13.08.2010 | Stand 03.12.2020, 3:46 Uhr

München (DK) "In der Wiesnbraut lebt häufig die Sehnsucht, dass es immer ein Oktoberfest geben soll: immer so ein Abend: immer eine Achterbahn: immer die Abnormitäten: immer Hippodrom im Kreis." Wohl keiner konnte so gut beobachten und zu Papier bringen, welche Sehnsucht nach Glück die Menschen umtreibt – und in den Abgrund stürzen lässt – wie Ödön von Horváth. Aber er war nur einer von vielen Schriftstellern, die die Wiesn besuchten auf der Suche nach literarischem Stoff. Daran erinnert eine Ausstellung der Monacensia, des Münchner Literaturarchivs, zu 200 Jahren Oktoberfest.

Jagd nach Glück

Horváth, der deutschsprachige Autor mit ungarischem Pass, kritzelte auf seinen Notizblock verschiedene Titel für ein Theaterstück – einer davon lautete "Achterbahn und Wiesnbraut", später veröffentlicht als "Kasimir und Karoline". Der Autor betonte stets, er wolle keine Satire auf München oder das Oktoberfest schreiben, sondern einsame Menschen im Vergnügungstrubel auf der Jagd nach Glück zeigen. Vielleicht ist dafür die Wiesn der ideale Schauplatz, weil dieses Fest Grenzen aufhebt – Grenzen des Anstandes und der Konvention, Grenzen des Milieus und der Geschlechter, Grenzen der Selbst- und der Menschenkenntnis. Denn wer sich einlässt auf die Wiesn, der wird im Schwung der Karussells und Flugmaschinen mitgerissen, der gerät in den Sog der Bierseligkeit – bis es Nacht wird und alles, das laute Gedröhn und das Flimmern der Lichter, zusammenschmilzt zu einer Vision von Glück. Wie lange aber währt dieser Augenblick? So lange, bis die Achterbahn in den Abgrund rauscht und Körper und Seele gemeinsam abstürzen.

Genau dies aber ist der Nährboden für Literatur. Die Ausstellung, die mit ausgewählten Exponaten aus dem Stadtmuseum, mit Zerrspiegel und Schaukelpferd, mit Wurffiguren und Losen, einen Hauch von Nostalgie heraufbeschwört, wirft Zitate an die Wand, spielt Oktoberfestfilme ab und zeigt Schnappschüsse von der Wiesn. Elisabeth Tworek, die Kuratorin, will "den Menschen ins Gesicht sehen", die als "Vorstadtstenz & Wiesnbraut" (so der Titel) unterwegs waren. Dabei ist sie überzeugt, dass die Entstehung dieses Festes in München kein Zufall ist, "weil der katholische Glaube das Feiern und das Über-die-Stränge-Schlagen zulässt".

Private Anekdoten wie die aus den Tagebüchern der Franziska von Reventlow sind ebenso einsehbar wie historische Fotos, etwa von einem Karussell um 1910, das mit seiner Windmühlen-Architektur an die "Moulin Rouge" vom Pariser Montmartre erinnert. Damals gab es auch noch ethnologischen Ausstellungen auf der Wiesn, und so bringt Prinzregent Luitpold den zu Schau gestellten Menschen aus Samoa Geschenke. Bert Brecht, Karl Valentin und Liesl Karlstadt dagegen versuchten 1920, mit einem Moritatenstand Geld zu verdienen. Notzeiten werden nicht ausgespart, etwa 1930 die dicht gedrängten Menschenreihen vor einem Steckerlfischstand, die schauen und riechen wollen, weil sie kein Geld zum Kaufen haben.

Eigene Hymne

Die Ausstellung ist mit ihren vielen, sorgfältig ausgewählten Details eine willkommene Ergänzung zur großen Schau im Münchner Stadtmuseum. Hier kann man das Verständnis des Wiesnphänomens vertiefen, etwa bei der Lektüre einer Hymne zum hundersten Jubiläum aus der Feder von Ludwig Thoma, die mit den Worten schließt: "Hebet hoch die Literkrüge / Mit drei Quarteln eingeschenkt." So sehr viel hat sich doch nicht geändert im Lauf der Geschichte.