Ingolstadt/München
Abtauchen ins Abenteuer

Das Junge Theater Ingolstadt bringt den "Schaurigen Schusch" auf die Bühne - Autorin Charlotte Habersack ist äußerst vielseitig

23.10.2020 | Stand 23.09.2023, 14:59 Uhr
In der Vorstellung der Doggl-spitz-Bewohner (links) ist der neue Nachbar ein fürchterliches Wesen. Bis sie erkennen, dass alles nur Vorurteile waren - und der "schaurige Schusch" ihnen eigentlich ganz schön ähnlich ist. Die Münchner Kinderbuchautorin Charlotte Habersack (oben) hat sich den "Schusch" ausgedacht, den das Junge Theater Ingolstadt jetzt auf die Bühne bringt. −Foto: Bäuml, Büchner/Ravensburger, Bertrand, Garanin/Carlsen, Renger/Dragonfly

Ingolstadt/München - Aufregung auf dem Dogglspitz: Ein neuer Nachbar zieht ein.

Groß wie ein Cola-Automat soll der Schusch sein. Außerdem ein zotteliger, stinkender Eier-Dieb mit Vorliebe für Hasenbraten und kussgefährlich! Die Tiere, die hier auf dem Gipfel des Simmerlgebirges leben - das scheue Huhn, der bockige Hirsch, die garstige Gams, das maulige Murmeltier und der Party-Hase - und noch nie etwas anderes gesehen haben als ihren Berg, fürchten nicht nur um ihre Idylle, sondern um Leib und Leben. Deshalb will auch keiner zur Einweihungsparty des Schusch gehen - bis auf den Party-Hasen, der keiner Fete widerstehen kann. Stundenlang warten seine Freunde voller Sorge auf seine Rückkehr. Und als sie endlich beschließen, den Schusch-Bau zu stürmen, treten beide gut gelaunt vor die Tür - der riesige Hase und der niedliche Schusch. Der seinerseits nicht nur sehr ängstlich ist, sondern darüber hinaus auch Vegetarier.

Ein hinreißendes Bilderbuch über Vorurteile hat Charlotte Habersack mit dem "Schaurigen Schusch" geschrieben. Das Junge Theater Ingolstadt bringt es nun für Kinder ab drei Jahren unter der Regie von Katharina Wüstling als mobile Produktion heraus. Die Premiere an diesem Samstag im Kleinen Haus ist bereits ausverkauft.

Die Idee zum Buch kam der Münchner Autorin, als sie einen Zeitungsartikel über wachsende Fremdenfeindlichkeit las - "und zwar ausgerechnet in den Regionen, in denen es eigentlich kaum Fremde gibt", erzählt sie. "Da dachte ich mir: Mit den Fremden ist es eigentlich wie mit den Scheinriesen in Michael Endes ,Jim Knopf'. Aus der Ferne wirken sie riesengroß und bedrohlich, aber wenn sie näher kommen und man sie kennenlernt, sind sie so klein und nett wie man selbst. So ergeht es zumindest den Tieren in meiner Geschichte. " Für ihre Landschaft - den Dogglspitz auf dem Simmerlgebirge - hat sie sprechende Wörter aus dem Österreichischen entlehnt. "Ein Doggl ist ein Filzpantoffel, ein Simmerl ein eher einfältiger Mensch. Daraus habe ich ein Gebirge gemacht: Die Tiere auf dem Dogglspitz sind ja so Pantoffelträger, die noch nie ihr Zuhause verlassen, noch nie etwas von der Welt gesehen haben und sich leicht einschüchtern lassen", erklärt Charlotte Habersack.

Der Schusch, der in der Fantasie der Bergbewohner übermächtig und furchteinflößend wird, entpuppt sich als süßes Tierchen - mit gepunktetem Fell, flauschigem Schwanz und Schnuffelnase. So zumindest hat Illustratorin Sabine Büchner ihn gezeichnet. "Ich hatte ihr keinerlei Vorgaben gemacht und mich überraschen lassen. Und ich finde, sie hat es wunderbar gelöst: Der Schusch hat tatsächlich von jedem Tier eine Eigenschaft: den gleichen Schwanz wie das Murmeltier, die gleichen Füße wie das Huhn, eine ähnliche Fliege wie der Partyhase", sagt die Autorin. "So fremd ist ein Fremder oftmals gar nicht. "

Ein bisschen kennt Charlotte Habersack sich mit dem Fremdsein aus. Denn als ihr Vater, von Beruf Ingenieur, für ein Jahr nach Johannesburg ging, nahm er sein Familie mit. "Ich war damals noch ganz klein. Aber ich kann mich an Fotos von großen Elefanten und afrikanischen Dörfern erinnern. " Geboren wurde Charlotte Habersack 1966 in München, wo sie heute noch wohnt. Zum Schreiben zieht sie sich aber oft in ein kleines Häuschen am Ammersee zurück. "Da gibt es kein Internet, kein Telefon, keinen Fernseher. Da sitze ich oft eine Woche oder auch zwei Wochen und kann ungestört arbeiten. " Bisweilen zu Beginn eines Buches, "um einfach Seiten aufs Blatt zu wuchten", oft auch gegen Ende, wenn die Abgabefrist dräut. "Dann schreibe ich Tag und Nacht durch. "

Geschrieben hat Charlotte Habersack schon als Kind. Auf der Schreibmaschine ihrer Mutter. "Da gab es diese kleinen, quadratischen Notizblöcke, die ein ähnliches Format haben wie Pixi-Bücher. Ich habe sie Schlotto-Büchlein genannt - angelehnt an Charlotte - und hinten draufgetippt: ,In dieser Reihe sind bereits erschienen . . . ' Also ganz professionell. Meine Eltern haben mir tatsächlich früh geraten, Schriftstellerin zu werden, aber das war viel zu groß für mich, das hätte ich mir gar nicht zugetraut. " Nach dem Abitur studierte sie - der Leseleidenschaft folgend - Germanistik und arbeitete zunächst als Kinoredakteurin beim Fernsehen. Heute schreibt sie vor allem Drehbücher und Romane für Kinder.

Bekannt ist beispielsweise ihre "Bitte nicht öffnen"-Reihe, an deren Anfang stets ein geheimnisvolles Päckchen steht, das "An Niemand" adressiert ist. Es landet bei Nemo, der natürlich nicht widerstehen kann, das Päckchen aufmacht, ein sprechendes Icy-Ice-Monster darin findet und irgendwie einen Schneesturm mitten im Sommer heraufbeschwört. In Band 2 haben er und seine Freunde es mit einem Schleim-Wesen zu tun, in Band 3 mit einer Vampirpuppe, in Band 4 mit einem Drachen und in Band 5 mit einem Einhorn. Es kann Seifenblasen rülpsen und damit Wünsche erfüllen. Aber stets versinkt das kleine Städtchen Boring im Chaos. "Ich wollte unbedingt ein Buch machen, das aussieht wie eine Kiste. Ich dachte mir: Wenn ich draufschreibe: ,Bitte nicht öffnen' hält sich garantiert kein Kind daran. So ist der erste Schritt zum Lesen gemacht. Erst danach habe ich mir die Geschichte dazu ausgedacht", erzählt die Autorin. Seit Erscheinen des ersten Bandes im Sommer 2016 wurden mehr als 600000 Exemplare der Reihe verkauft. Gerade hat Charlotte Habersack Band 6 fertiggestellt ("Bitte nicht öffnen - Rostig! "), der kommendes Jahr erscheinen soll. In Band 7, der für 2022 terminiert ist, soll dann aufgelöst werden, wer der mysteriöse Absender ist.

Ganz anders war der Weg zu Charlotte Habersacks Reihe "Echte Helden". "Ich hatte das Gefühl, dass man kaum Kinderbücher findet, die auf wahren Begebenheiten beruhen. Trotzdem gibt es diese Zielgruppe: Kinder, die eigentlich gar nichts lesen, weil ihnen genau das fehlt. Die greifen dann zum ,Guinnessbuch der Rekorde' oder etwas in der Art. Für sie habe ich diese Bücher entwickelt. Ich suche mir einen wahren Fall, in dem sich jemand aus einer gefährlichen Situation befreien konnte - und übertrage das auf einen Kinderkosmos. "

Und dann ist da noch Pippa Pepperkorn, eine Nachfahrin von Pippi Langstrumpf, nicht so stark, aber genauso fantasiebegabt. "Bei Pippa war zuerst die Figur als Idee da. Pippa ist eigentlich eine beste Freundin. So eine Freundin möchte jeder haben oder könnte jeder gut gebrauchen. Pippa kennt keine Probleme, nur Lösungen - auch wenn die ein bisschen verrückt sind und nicht so funktionieren, wie man sich das vorstellt. Aber auf irgendeine Art und Weise macht Pippa einfach jeden glücklich. Ich glaube, sie ist ein bisschen ein Kind der 70er - so wie meine Kindheit noch war. Sehr viel freier als heute. Man konnte rumstrawanzen und sich verrückte Ideen ausdenken - ohne allzu sehr unter der Beobachtung der Eltern zu stehen. Pippa und ihre Freunde lösen ihre Probleme ganz allein. Die Eltern greifen relativ wenig ein. Und Handys oder Computer kommen noch gar nicht vor - ohne, dass das so postuliert wird. " Acht Bücher und ein Sonderband mit Geschichten sind bislang über Pippa erschienen - mit entsprechenden Übersetzungen. Auch arabische, französische, polnische, spanische und türkische Leseratten lachen sich über Pippas Merkwürdigkeiten schlapp.

Hat sich die Kinderliteratur eigentlich verändert? "Natürlich wandelt sich Kinderliteratur - wie alles", antwortet Charlotte Habersack. "Die Kinder ändern sich, sind mit anderen Dingen konfrontiert. Auch mit anderen Erzählstrukturen. Man muss heute viel schneller in eine Geschichte reinkommen können. Es muss gleich spannender oder lustiger losgehen, weil die Aufmerksamkeitsspanne nicht mehr so groß ist. Was ich ein bisschen bedauere ist, dass von Verlagsseite heute wieder mehr in Jungs und Mädchen eingeteilt wird. Das kenne ich aus meiner Kindheit so nicht. Ich möchte Geschichten schreiben, die für beide gleichermaßen gut sind. "

DK


Anja Witzke